Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Fährmann, hol über!
Pendler zwischen den Ufern – Seit fast 40 Jahren setzt Achim Landwehr Menschen über den Neckar – Nun tritt er seine letzte Fahrt an
Um kurz nach sechs steigt der erste Fahrgast zu. Leicht bibbernd und auch etwas verloren steht der Mann inmitten der Fähre, die mehr an eine schwimmende Plattform als an ein Schiff erinnert. Der Fährmann nickt ihm knapp zu. Viel zu früh, um große Worte zu machen. Selbst der Fluss unter ihnen schweigt. Der Neckar zeigt sich an diesem Novembermorgen so unergründlich wie ein Tintenfass.
Ein Fahrgast nur, aber der Fährmann legt ab. Eisiger Wind bläst ihm ins Gesicht, als er ans Ufer stapft um das Tau zu lösen. Der Motor keucht wie ein Traktor mit Husten, während sich die Fähre kurz darauf durchs Wasser schiebt. Drei stumme Minuten später stößt sie auf Land. Der Fahrgast entschwindet ins Dunkle, schnell auf die S-Bahn und weiter zur Arbeit. Der Fährmann blickt zurück ans andere Ufer und sagt mehr zu sich selbst: „Die Nächsten kommen um halb sieben.“
Er heißt Achim Landwehr, ein Mann mit akkurat geschnittenem weißem Schnurrbart, dessen Hände in groben Arbeitshandschuhen stecken. Auch ohne Uniform strahlt er die sanfte Autorität eines Kapitäns aus, der viele Jahre auf dem Wasser zugebracht hat. Das kurze Stück über den Fluss wird er an diesem Tag unzählige Male zurücklegen. Seine Fähre ist die schnellste Verbindung zwischen dem kleinen Ort Neckarhäuserhof in Baden-Württemberg und dem Neckarsteinacher Stadtteil Neckarhausen im Hessischen. Rund 15 Kilometer spart, wer die Abkürzung über den Neckar nimmt. Pendler, Schüler, Landwirte und Touristen fahren mit ihm. „Die Leute sind dankbar, dass es mich gibt“, sagt Landwehr. Deshalb startet er auch für einen einzigen Fahrgast den Motor. Platz hätte er für 60.
Den Neckar kreuzten früher viele solcher Fähren. Heute überspannen Brücken den Fluss und machen den Betrieb überflüssig. Dasselbe Schicksal droht auch der einzigen weiteren Verbindung nahe Ladenburg. Dann wäre Landwehrs Fähre die letzte. Sie wurde 1933 gebaut, ein Überbleibsel einer vergangenen Zeit.
Ein wenig scheint das auch für Achim Landwehr zu gelten. Seit fast 40 Jahren pendelt er zwischen den beiden Ufern. In dieser Zeit hat er acht andere Fährmänner kommen und gehen sehen, mit denen er sich die Stelle im wöchentlichen Wechsel teilte. Er hat die Fähre durch Hochwasser und Stürme gelenkt. Er hat Sommer ertragen, in denen ihm die Sonne gnadenlos in den Nacken brannte und an Bord kaum Schatten zu finden war. Im Winter schippte er Schnee von Deck und ignorierte den Eisregen, der ihm ins Gesicht peitschte.
Diese Saison hat er sich russische Filzstiefel zugelegt. „Die halten selbst bei minus 40 Grad warm“, versichert er. Es wird sein letzter Winter auf dem Wasser sein. Im Mai, mit 64 Jahren, will er in den Ruhestand gehen. Im Dunkeln wartet er am badischen Ufer, bis um halb sieben tatsächlich Scheinwerfer aufleuchten. Ein Auto rollt über die hölzerne Rampe der Fähre. Es stoppt vor einer rot-weißen Schranke, an der ein Schild anweist: „Motor abstellen. Handbremse anziehen.“
Am anderen Ende der Fähre schließt Landwehr eine identische Schranke. Die Handgriffe hat er so oft ausgeführt, dass sie fast mechanisch wirken. Dabei läuft nichts an Bord automatisch. Mit eigener Muskelkraft muss er vor dem Start eine schwere Kurbel drehen. Noch so ein Überbleibsel.Der denkmalgeschützte Kahn hängt an Drahtseilen. Landwehr muss die Seile so einstellen, dass allein die Strömung die Fähre theoretisch ans andere Ufer drücken könnte. Praktisch läuft immer der Dieselmotor mit.
Achim Landwehr ist einer der letzten Fährmänner am Neckar nahe Ladenburg
Er tritt jetzt ans Autofenster, wünscht einen Guten Morgen und kassiert: 1,80 Euro für ein Auto mit Fahrer.
Halb acht. Weder Fußgänger noch Autos sind zu sehen. Landwehr macht die Fähre auf der badischen Seite fest und eilt einige Meter den Hang hinauf zu einem schmalen Gebäude. Drinnen im Fährhaus springt ihm Hund Aiko entgegen, ein japanischer Shiba Inu. Aus einer Thermoskanne gießt Landwehr schwarzen Tee ein und drängt sich mit einem dampfenden Becher dicht an den Kachelofen. Immer wieder huscht sein Blick zu dem Fenster in der Tür. Von dort überblickt er beide Ufer. „Die Leute haben heute keine Zeit mehr, wenn ich nicht gleich komme, fahren sie weg.“Landwehr ist auf das Fahrgeld angewiesen. Er legt ab, wann immer Kundschaft wartet. Egal, ob wie später an diesem Mittag nur ein Wanderer mit Hund übersetzt, 80 Cent der Mann, 50 Cent der Hund, oder ein Lastwagen, 2,20 Euro.
Die Fähre hat er von den Städten links und rechts des Ufers, Neckargemünd und Neckarsteinach, gepachtet. Von ihnen erhält er einen Zuschuss, doch was er zum Leben braucht, muss er selbst verdienen. Deshalb startet er morgens um sechs, wenn die Leute zur Arbeit strömen, und hält bis abends um halb acht die Stellung, im Sommer eine Stunde länger. 14-Stunden-Tage sind bei ihm die Regel, nicht die Ausnahme.
Ein Job draußen in der Natur. Eigentlich war es genau das, was sich Landwehr als junger Mann gewünscht hatte. Nur wollte er ursprünglich Förster werden. Als er keine Stelle bekam, verpflichtete er sich für vier Jahre bei der Bundeswehr. Als er 1980 zurückkam, suchten die Städte gerade einen Fährmann. Landwehr stieg ein. „Nur vorübergehend.“Dachte er damals.
Im Fährhaus sind seine Finger kaum aufgetaut, da taucht drüben am Ufer ein dunkler Wagen auf. Er ruft: „Aiko, du bleibst hier“und ist schon durch die Tür. Mehrmals an diesem Tag wird er zwischen Wärme und Kälte hin- und herrennen. Ein paar Fahrten später steht er unschlüssig auf seiner Fähre und reckt den Hals. Jedes Mal ist es dieselbe Wette: Motor abschalten und Pause machen oder ausharren, weil vielleicht gleich das nächste Auto kommt?
Eigentlich wäre jetzt ein guter Zeitpunkt, um sich eine Zigarette anzustecken. Aber Landwehr hat das Rauchen lange aufgegeben. 1992, als der Unfall geschah.Er erinnert sich gut an die Frau, die regelmäßig ihren Wagen auf seine Fähre lenkte. An jenem Tag saß ihr drei Jahre alter Bub auf der Rückbank. Die Mutter hatte den Motor abgestellt und war ausgestiegen. Was dann geschah, kann Landwehr bis heute kaum begreifen. Unbemerkt musste der Junge nach vorn geklettert sein und am Schlüssel gedreht haben. Das Auto machte einen Satz und brach durch die Schranke. Der Neckar verschluckte Fahrzeug und Kind in Sekunden. Landwehr sprang hinterher, die Fähre trieb führerlos weiter. Sekunden – oder waren es Minuten? – später riss ihn jemand an den Haaren nach oben. Da hatte er längst das Bewusstsein verloren. Fast ertrunken wäre er damals. Das Kind bargen sie tot.
Die erste Zigarette nach dem Krankenhaus war auch die letzte. Sie brannte wie Feuer in der Lunge. Er fuhr bald wieder mit der Fähre. Was geschehen war, sagt er heute, holte ihn erst später ein. Schwimmen war er seit dem Unfall nie mehr.
Man hat dort auf dem Wasser viel Zeit zum Nachdenken, während die Hände weiterarbeiten. Tau lösen, Schranke schließen, Kurbel drehen. Landwehr mag diese Ruhe und Beständigkeit. In seinem Leben hat er Tausende Kilometer zurückgelegt, ohne sich je weit vom Ufer zu entfernen. Trotzdem verspürte er nie die Sehnsucht, etwas anderes zu steuern als die Fähre über den Neckar. So ein stoischer Typ muss man wohl sein, um diesen Job durchzuhalten. Findet man so jemanden heute noch? Um den Fährbetrieb am Laufen zu halten, braucht es zwei Fährmänner. Sie wechseln sich ab, sieben Tage der eine, sieben Tage der andere. Sie fahren am Wochenende, an Ostern, Weihnachten und Silvester. Urlaub ist ein Luxus, den sich Landwehr zuletzt 1982 gegönnt hat. Vergangenen Mai hat sein Kollege hingeschmissen. Seitdem fuhr Landwehr zusätzliche Schichten, um zumindest die Pendler morgens zu bedienen. Unter einem großen Medienecho suchten die Städte einen Nachfolger. Der Freundeskreis der Fähre entwarf eine Stellenanzeige: „Sie haben Spaß am Arbeiten in der frischen Luft und sind entsprechend wetterfest?“
Markus Seibert und Jürgen Rak scheint die Arbeit im Freien zumindest nicht abzuschrecken. Die Männer sind später am Morgen zur Fähre gestoßen und gehen Landwehr nun zur Hand. Sie könnten die Pacht gemeinsam übernehmen, wenn Landwehr in den Ruhestand geht. Momentan fehlt beiden der Fährführerschein. Seibert, 42 Jahre alt, ein Mann mit graumeliertem Vollbart, dessen Urgroßvater bereits Fährmann war, steht kurz vor der praktischen Prüfung. Jürgen Rak, 30, ist erst seit Kurzem an Bord.
Ein Auto fährt vor. Die angehenden Fährmänner wissen, was zu tun ist. Rak löst das Tau und schließt die Schranke. Seibert dreht derweil schon die Kurbel und lässt dann den Motor aufhusten. Fast teilnahmslos steht Landwehr zwischen den jüngeren Männern. Für einen Moment finden seine Hände nichts zu tun. Den Blick hat er starr aufs andere Ufer gerichtet. Er ist jetzt ein Kapitän auf Abruf.
Achim Landwehr sagt, er freue sich auf den Ruhestand. Er wird dann mit Aiko spazieren gehen und sich um das Grundstück um sein Haus kümmern. Nach einer Pause setzt er hinzu: „Und sicher wird ja ab und zu das Telefon klingeln.“Dann sei vielleicht einer der Fährmänner krank geworden oder man brauche seinen Rat bei Hochwasser. „Dann bin ich bereit.“
Die Leute sind dankbar, dass es mich gibt.