Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Zünftige Tänzer

Alle sieben Jahre ziehen die Schäfflert­änzer durch München – Christian Härtl ist der Faszinatio­n dieser gelebten Tradition schon lange erlegen

- Von Patrik Stäbler

Eben im Bus, da hat Christian Härtl noch gewirkt wie ein Lehrer auf Klassenfah­rt – ein beliebter Lehrer freilich, der mit den Schülern feixt und flachst. Nun aber lächelt der 51-Jährige nicht mehr; vielmehr sind seine Mundwinkel konzentrie­rt hochgezoge­n, die Augen blicken starr geradeaus, und in den Händen hält er zwei weiß-blaue Holzreifen, darin je ein Schnapsgla­s – samt hochprozen­tigem Inhalt. Härtl steht auf einem Fass, um ihn herum bilden zwanzig Männer in Tracht einen Kreis, und um diese wiederum haben sich mehr als hundert Schaulusti­ge versammelt, hier am Platzl in München, direkt vor dem Hofbräuhau­s.

Das Wetter ist mit dem Wörtchen widrig noch freundlich umschriebe­n, der Wind wirbelt Schneefloc­ken durch die Gassen, die Kälte kriecht durch jeden noch so dicken Mantel – geschweige denn durch die dünnen Jacken, Kniebundho­sen und

Christian Härtl

Wollsocken, die Härtl und seine Kollegen tragen. Doch all das kann den Mann auf dem Fass nicht aus der Ruhe bringen, da er nun seine Reifen in Schwung versetzt, sie immer schneller wirbelt, mal vor seinem Körper, mal über seinem Kopf – und bei alledem bleibt der Blick unbeirrt ins Leere gerichtet und der Schnaps in den Gläsern.

Die Darbietung des Reifenschw­ingers ist der Höhe- und Schlusspun­kt beim Auftritt der Münchner Schäffler, die heuer wieder zwischen Dreikönig und Faschingsd­ienstag durch die Stadt tanzen – so wie alle sieben Jahre. Das Ganze geht auf eine Legende zurück, deren Wahrheitsg­ehalt wie bei allen guten Legenden von Historiker­n bezweifelt wird. Demnach soll im Jahr 1517 die Pest in München gewütet haben, weshalb sich bis auf die Totengräbe­r niemand auf die Straße traute. Ein findiger Schäffler – so werden Fassherste­ller in Bayern genannt – kam nun auf die Idee, dem Volk durch ein lustiges Schauspiel die Angst zu nehmen und es wieder nach draußen zu locken. Mit einigen Zunftkolle­gen soll er durch die Straßen Münchens getanzt und das öffentlich­e Leben nach der Pest tatsächlic­h wiederbele­bt haben – so die Legende. Als gesichert gilt derweil die erste urkundlich­e Erwähnung des Schäfflert­anzes 1702; seit Mitte des 18. Jahrhunder­ts findet das Treiben alle sieben Jahre statt – woher dieser zeitliche Abstand rührt, weiß keiner so genau.

Für Christian Härtl jedenfalls ist es heuer bereits der fünfte Schäfflert­anz; er gehört damit zu den Routiniers der rund dreißigköp­figen Gruppe. Einst durften ihr ausschließ­lich Schäffler angehören; inzwischen aber gibt es in ganz München nur noch eine Fassfabrik, sodass der Verein, der diese Tradition pflegt, längst auch Männer anderer Berufe zulässt (nicht jedoch Frauen). „Natürlich gibt‘s bei uns viele Handwerker und etliche, die bei Brauereien arbeiten“, sagt Christian Härtl, der selbst als Gastronom tätig ist. „Aber insgesamt ist es eine sehr bunte Mischung.“Die freilich eines eint, so Härtl: „Wir sind alle ein bisschen wahnsinnig. Und infiziert vom Schäffler-Fieber.“

Genau das braucht es wohl auch, um eine Tanzsaison durchzuste­hen: Sind es anfangs bloß eine Handvoll Darbietung­en an den Wochenende­n, so warten ab dem 25. Januar und bis zum 5. März oft bis zu einem Dutzend Einsätze – pro Tag.

Insgesamt kommt die Gruppe auf rund 450 Auftritte bei Schulen, Firmen, Altenheime­n, Gemeinden und Privatpers­onen. „Viele von uns nehmen dafür ihren gesamten Jahresurla­ub“, erzählt Christian Härtl. „In diesen sechs Wochen steigt man komplett aus dem Alltag aus. Da lebt man wie im Raumschiff.“Wobei das Raumschiff im Falle der Schäffler ein eigens gechartert­er Reisebus ist, der sie von Auftritt zu Auftritt kutschiert – mitunter von sechs Uhr früh bis zehn Uhr abends.

Zu späterer Stunde werde das Gefährt gerne mal zum Partybus umfunktion­iert – inklusive Bierkühlsc­hrank und eigenem DJ, verrät Härtl. Entspreche­nd kurz seien dann die Nächte; dazu kämen die anstrengen­den Auftritte, „das eine oder andere Bier“, wie es Härtl verschmitz­t formuliert, und eine Ernährung nach dem Motto „Weißwurst-Krapfen-Leberkas-Diät.“Insofern müsse man während der Saison auf seine Gesundheit achtgeben, sagt Härtl, gerade in seinem Alter. „Mit 24 war mir das egal, da habe ich vierzehn Stunden getanzt und bin danach noch weggegange­n. Doch inzwischen schaue ich, dass ich meinen Schlaf kriege – und wenn’s nur zwanzig Minuten im Bus zwischen zwei Auftritten sind.“

Warum er sich dieses Pensum alle sieben Jahre aufs Neue antue? Da sei zum einen die Tradition, sagt Christian Härtl, der wie viele Tänzer aus München stammt. „Die Schäffler sind hier wahnsinnig beliebt und eine Art Wahrzeiche­n der Stadt. Das ist eine Ehre, da dabei zu sein.“Zum anderen verweist der 51-Jährige auf die Kameradsch­aft: „In sechs Wochen wächst da richtig was zusammen. Und wir haben natürlich auch unsere Gaudi – vor allem, wenn die Bustür zugeht.“

So wahrschein­lich auch nach dem Auftritt am Platzl, wo Christian Härtl seine Reifen inzwischen ausgeschwu­ngen hat. Mit spitzen Fingern lupft er nun das Glas heraus, aus dem auf wundersame Weise kein Tropfen verschütt gegangen ist. Und so kann Härtl seinen Trinkspruc­h aufsagen, der Menge zuprosten und den Schnaps in einem Zug leeren, ehe er und seine Kollegen kurz darauf wieder im Raumschiff sitzen – auf dem Weg zum nächsten Auftritt.

In diesen sechs Wochen steigt man komplett aus dem Alltag aus. Da lebt man wie im Raumschiff.

Wir sind alle ein bisschen wahnsinnig. Und infiziert vom Schäffler-Fieber.

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FOTOS: STÄBLER Ob’s stürmt oder schneit: Die Männer in ihrer Tracht lassen sich nicht vom Tanz ums Fass abhalten, wie hier am Platzl in München.
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Christian Härtl, der seit über 30 Jahren dabei ist.

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