Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Anne Frank betritt die Gegenwart
Waldbühne-Jugend liefert gelungene Premiere im Alten Schlachthof.
-● Ihr Winterstück SIGMARINGEN
„Anne Frank – In Sicherheit gefangen“haben die Jugendspieler der Waldbühne Sigmaringendorf am Freitag im Alten Schlachthof zum ersten Mal aufgeführt. Alle sechs Vorstellungen waren jedoch bereits vor der Premiere ausverkauft. Die hohen Erwartungen an den bekannten Stoff, der von vornherein keine leichte Unterhaltung versprach, wurden mehr als erfüllt. Regisseurin und Theaterpädagogin Nadja Kiesewetter formte mit den Jugendlichen ein herausragendes Drama, das die Vergangenheit glaubwürdig in die Gegenwart stellt.
Das Tagebuch der Anne Frank ist eines der bekanntesten Bücher der Welt und in viele Sprachen übersetzt. Museen sowie zahlreiche Verfilmungen und Theaterstücke widmeten sich bereits dem Stoff, der immer wieder neu erzählt wird. Dennoch verstand es die Waldbühne mit ihrer Darstellung ausschließlich aus der Jugendperspektive, einen eigenen Akzent zu setzen.
Anne Frank wurde 1929 in Frankfurt am Main geboren, ihre Schwester Margot war drei Jahre älter. Nach der Machtübernahme durch die Nationalsozialisten emigrierte die Familie unter dem Druck der Judenverfolgung im sogenannten „Dritten Reich“1934 nach Amsterdam. Nach dem Einmarsch der Deutschen musste die jüdische Familie ab 1942 im Hinterhaus der vom Vater gegründeten Firma verstecken. Doch im August 1944 war alles vorbei: Sie wurden verraten und nach Auschwitz deportiert. Im Hinterhaus lebten insgesamt acht Personen, darunter Peter van Pels aus Osnabrück, der im Alter von Margot war, und seine Eltern. Nur Annes Vater Otto überlebte. Anne hatte ihr Tagebuch, das sie kurz vor ihrem Leben im Untergrund bekommen hatte, in Amsterdam zurückgelassen.
Das Tagebuch ist der Ausgangspunkt des Stücks, das von der Einleitung bis zur Katastrophe, dem im wahrsten Sinne geschlossenen Ort und der kathartischen Wirkung auf die Zuschauer als Drama inszeniert wurde. Wenige Requisiten und ausdrucksstarke Mimik sorgen dafür, dass die traurigen Teile nicht ins Rührselige abgleiten.
Jugendliche begehren auf
In der ersten Szene sitzt Anne neben ihrer stummen und erfundenen Ansprechpartnerin Kitty (Charlotte Fanslau) und erzählt aus dem Alltag eines Mädchens in der Pubertät: „Es ist so viel geschehen, als hätte sich die Welt umgedreht.“Die impulsive, hoffnungsvolle, wütende oder verliebte Anne tritt dabei in sechsfacher Gestalt (Helena Pfäffle, Isabell Sobik, Lynn Benz, Maren Bauer, Miriam Holl, Romy Fischer) und immer in rot-weiß auf. Ihre vernünftige und versöhnliche Schwester Margot (Annika Holderried, Bianca Reger, Jana Ott, Janina Fanslau, Madeleine Gasser, Marika Münzer) ist blauberockt und trägt eine weiße Bluse. Der schüchterne und kluge Peter van Pels wird vierfach von David Stebich, Leo Wirth, Lucas Ziser und Tobias Droxner dargestellt. Die multiplen Akteure laden auch die Zuschauer ein, selbst eine Anne, eine Margot, ein Peter zu sein und verkörpern die Stimmungsschwankungen angesichts einer großen und manchmal nur undeutlich erkannten Gefahr.
Eindrucksvoll wird die fatale politische Lage gezeigt, wenn alle Darsteller einen Judenstern tragen oder wenn sich die Jugendlichen vor der Flucht fragen: „Was nehme ich mit, was ist das Wichtigste für mich? Die Katze oder doch die Briefe?“Sie spiegeln aber auch das Aufbegehren in dieser Situation, den Wunsch, leben zu wollen. Die Jugendlichen wissen und wollen oder können doch das Unbegreifliche nicht glauben: „Alles geht mit dem Zug in den Tod – und das nur, weil wir Juden sind.“Sie hoffen, der Hass möge enden. Peter verzweifelt an seiner Gegenwart: „In was für einer Welt leben wir denn?“
Die Fragen, die das Ensemble sich stellte und mit denen es sich in vier Monaten intensiver Arbeit auseinandersetzte, gehören nicht nur der Vergangenheit an. Die Innenperspektive der Jugendlichen wirkt – weil die Zuschauer von ihrem Schicksal wissen – zeitweise naiv und regt zum Weiterdenken an. Das Stück endet sehr wirkungsvoll mit der Abholung aus dem Hinterhaus: Das Tor auf der Bühne wird aufgestoßen, zwei blaue Scheinwerfer beleuchten den Raum, eine Uniform ist zu sehen, die Kälte tritt emotional wie real ein und alle Schauspieler verlassen in Paaren die Bühne.
Die eintretende Stille wurde vom Publikum mit einem Riesenapplaus beendet. Zusätzlich wandelten die jungen Schauspieler mit einer unterhaltsamen Dankesrede die Stimmung und luden alle zur Premierenfeier ein.