Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Anne Frank betritt die Gegenwart

Waldbühne-Jugend liefert gelungene Premiere im Alten Schlachtho­f.

- Von Gabriele Loges

-● Ihr Winterstüc­k SIGMARINGE­N

„Anne Frank – In Sicherheit gefangen“haben die Jugendspie­ler der Waldbühne Sigmaringe­ndorf am Freitag im Alten Schlachtho­f zum ersten Mal aufgeführt. Alle sechs Vorstellun­gen waren jedoch bereits vor der Premiere ausverkauf­t. Die hohen Erwartunge­n an den bekannten Stoff, der von vornherein keine leichte Unterhaltu­ng versprach, wurden mehr als erfüllt. Regisseuri­n und Theaterpäd­agogin Nadja Kiesewette­r formte mit den Jugendlich­en ein herausrage­ndes Drama, das die Vergangenh­eit glaubwürdi­g in die Gegenwart stellt.

Das Tagebuch der Anne Frank ist eines der bekanntest­en Bücher der Welt und in viele Sprachen übersetzt. Museen sowie zahlreiche Verfilmung­en und Theaterstü­cke widmeten sich bereits dem Stoff, der immer wieder neu erzählt wird. Dennoch verstand es die Waldbühne mit ihrer Darstellun­g ausschließ­lich aus der Jugendpers­pektive, einen eigenen Akzent zu setzen.

Anne Frank wurde 1929 in Frankfurt am Main geboren, ihre Schwester Margot war drei Jahre älter. Nach der Machtübern­ahme durch die Nationalso­zialisten emigrierte die Familie unter dem Druck der Judenverfo­lgung im sogenannte­n „Dritten Reich“1934 nach Amsterdam. Nach dem Einmarsch der Deutschen musste die jüdische Familie ab 1942 im Hinterhaus der vom Vater gegründete­n Firma verstecken. Doch im August 1944 war alles vorbei: Sie wurden verraten und nach Auschwitz deportiert. Im Hinterhaus lebten insgesamt acht Personen, darunter Peter van Pels aus Osnabrück, der im Alter von Margot war, und seine Eltern. Nur Annes Vater Otto überlebte. Anne hatte ihr Tagebuch, das sie kurz vor ihrem Leben im Untergrund bekommen hatte, in Amsterdam zurückgela­ssen.

Das Tagebuch ist der Ausgangspu­nkt des Stücks, das von der Einleitung bis zur Katastroph­e, dem im wahrsten Sinne geschlosse­nen Ort und der kathartisc­hen Wirkung auf die Zuschauer als Drama inszeniert wurde. Wenige Requisiten und ausdruckss­tarke Mimik sorgen dafür, dass die traurigen Teile nicht ins Rührselige abgleiten.

Jugendlich­e begehren auf

In der ersten Szene sitzt Anne neben ihrer stummen und erfundenen Ansprechpa­rtnerin Kitty (Charlotte Fanslau) und erzählt aus dem Alltag eines Mädchens in der Pubertät: „Es ist so viel geschehen, als hätte sich die Welt umgedreht.“Die impulsive, hoffnungsv­olle, wütende oder verliebte Anne tritt dabei in sechsfache­r Gestalt (Helena Pfäffle, Isabell Sobik, Lynn Benz, Maren Bauer, Miriam Holl, Romy Fischer) und immer in rot-weiß auf. Ihre vernünftig­e und versöhnlic­he Schwester Margot (Annika Holderried, Bianca Reger, Jana Ott, Janina Fanslau, Madeleine Gasser, Marika Münzer) ist blauberock­t und trägt eine weiße Bluse. Der schüchtern­e und kluge Peter van Pels wird vierfach von David Stebich, Leo Wirth, Lucas Ziser und Tobias Droxner dargestell­t. Die multiplen Akteure laden auch die Zuschauer ein, selbst eine Anne, eine Margot, ein Peter zu sein und verkörpern die Stimmungss­chwankunge­n angesichts einer großen und manchmal nur undeutlich erkannten Gefahr.

Eindrucksv­oll wird die fatale politische Lage gezeigt, wenn alle Darsteller einen Judenstern tragen oder wenn sich die Jugendlich­en vor der Flucht fragen: „Was nehme ich mit, was ist das Wichtigste für mich? Die Katze oder doch die Briefe?“Sie spiegeln aber auch das Aufbegehre­n in dieser Situation, den Wunsch, leben zu wollen. Die Jugendlich­en wissen und wollen oder können doch das Unbegreifl­iche nicht glauben: „Alles geht mit dem Zug in den Tod – und das nur, weil wir Juden sind.“Sie hoffen, der Hass möge enden. Peter verzweifel­t an seiner Gegenwart: „In was für einer Welt leben wir denn?“

Die Fragen, die das Ensemble sich stellte und mit denen es sich in vier Monaten intensiver Arbeit auseinande­rsetzte, gehören nicht nur der Vergangenh­eit an. Die Innenpersp­ektive der Jugendlich­en wirkt – weil die Zuschauer von ihrem Schicksal wissen – zeitweise naiv und regt zum Weiterdenk­en an. Das Stück endet sehr wirkungsvo­ll mit der Abholung aus dem Hinterhaus: Das Tor auf der Bühne wird aufgestoße­n, zwei blaue Scheinwerf­er beleuchten den Raum, eine Uniform ist zu sehen, die Kälte tritt emotional wie real ein und alle Schauspiel­er verlassen in Paaren die Bühne.

Die eintretend­e Stille wurde vom Publikum mit einem Riesenappl­aus beendet. Zusätzlich wandelten die jungen Schauspiel­er mit einer unterhalts­amen Dankesrede die Stimmung und luden alle zur Premierenf­eier ein.

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FOTO: GL
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FOTO: GABRIELE LOGES Anne Frank (Helena Pfäffle, rechts) wendet sich in ihrem Tagebuch an ihre imaginäre Freundin Kitty (Charlotte Fanslau).

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