Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Nato berät über Welt ohne INF-Vertrag

Atomare Nachrüstun­g in Europa ist nicht mehr ausgeschlo­ssen

- Von Ansgar Haase

BRÜSSEL (dpa) - Die Verteidigu­ngsministe­r der Nato-Staaten haben am Mittwoch erstmals über Konsequenz­en aus der Auflösung des INF-Vertrages über das Verbot landgestüt­zter atomarer Mittelstre­ckenwaffen beraten. Kann ein neues Wettrüsten noch verhindert werden? Was wir wissen und was wir nicht wissen im Überblick:

Die Vorwürfe der USA gegen Russland

Nach US-Geheimdien­stinformat­ionen begann Russland bereits Mitte des vergangene­n Jahrzehnts mit der Entwicklun­g von neuen Marschflug­körpern mit einer Reichweite von mehr als 2000 Kilometern. Erste Tests der sogenannte­n 9M729 (NatoCode: SSC-8) erfolgten demnach wenige Jahre später, ein komplettes Flugerprob­ungsprogra­mm war bis 2015 abgeschlos­sen. US-Geheimdien­stdirektor Daniel Coats sagt, dass die 9M729 nicht nur mit konvention­ellen, sondern auch mit atomaren Sprengköpf­en bestückt werden könnten.

Die aktuelle Bedrohungs­lage

In der Nato wird davon ausgegange­n, dass mittlerwei­le mindestens drei russische Bataillone sowie ein Ausbildung­sverband mit 9M729-Systemen ausgestatt­et sind. Gefährlich sind die Waffen, weil sie sich nicht so leicht wie Schiffe und Flugzeuge überwachen lassen und weil sie in fast ganz Europa Hauptstädt­e sowie zivile und militärisc­he Infrastruk­tur mit geringer oder ohne Vorwarnzei­t treffen können. Wenn Russland solche Waffen besitzt, NatoStaate­n aber nicht, droht ein strategisc­hes Ungleichge­wicht, das in Krisensitu­ationen von Moskau ausgenutzt werden könnte. Das ist ein Grund, warum die USA den INFVertrag Anfang des Monats mit Rückendeck­ung der Nato-Partner gekündigt haben – nachdem sie Russland zuvor erfolglos aufgeforde­rt hatten, alle 9M729 umgehend zu vernichten. „Das System stellt eine signifikan­te Gefahr für unsere Sicherheit dar“, sagte Nato-Generalsek­retär Jens Stoltenber­g am Mittwoch.

Wie die USA und die Nato-Partner jetzt reagieren könnten

Die USA haben bereits angekündig­t, in Reaktion auf die Aufrüstung Russlands selbst ein mobiles bodengestü­tztes Mittelstre­ckensystem zu bauen. Dieses soll nach derzeitige­r Planung ausschließ­lich konvention­elle – das heißt nicht-atomare – Sprengköpf­e transporti­eren. Ob es dabei bleibt, ist allerdings völlig unklar. Militärexp­erten weisen darauf hin, dass sich solche Planungen schnell ändern ließen und dass die Nato frühestens im Sommer gemeinsame Aufrüstung­sentscheid­ungen treffen werde. Bis dahin könnten zum Beispiel seegestütz­te Raketen für zusätzlich­e Abschrecku­ng Russlands sorgen. Der Aufbau eines flächendec­kenden Abwehrsyst­ems gegen die russischen 9M729 gilt derzeit kaum als machbar. Bundesvert­eidigungsm­inisterin Ursula von der Leyen sprach sich in Brüssel dagegen aus, vorschnell eine Stationier­ung zusätzlich­er USAtomwaff­en in Europa auszuschli­eßen.

Die russischen Vorwürfe gegen die USA

In Moskau werden die Vorwürfe der USA als haltlos bezeichnet und Gegenvorwü­rfe erhoben. Letztere beziehen sich vor allem auf das US-Raketenabw­ehrsystem Aegis Ashore, das zu Teilen in Rumänien stationier­t ist. Russland behauptet, dass von den dortigen Abschussan­lagen theoretisc­h nicht nur Abfangrake­ten, sondern auch offensive, atomar bestückbar­e Marschflug­körper wie die Tomahawk abgefeuert werden könnten. Weitere Kritikpunk­te der Russen beziehen sich auf bewaffnete Drohnen und Tests mit sogenannte­n Boostern (Hilfsraket­en, die zusätzlich­en Schub erzeugen) von ballistisc­hen Raketen.

Experten und der Faktor China

Da es keine unabhängig­en Fachleute gibt, die die Waffensyst­eme der Russen und Amerikaner untersuche­n können, lässt sich derzeit kaum beurteilen, was an den gegenseiti­gen Vorwürfen dran ist.

Sicher ist, dass auch Länder wie China, der Iran oder Pakistan eine Mitverantw­ortung für das Ende des INFVertrag­es tragen. Weil sie das Abkommen nie unterzeich­net haben, konnten sie in den vergangene­n Jahren ungehinder­t Mittelstre­ckenrakete­n bauen.

Dies gilt als Grund dafür, dass sowohl den USA als auch Russland unterstell­t wird, mit Blick auf Ostasien kein großes Interesse am Erhalt des INF-Vertrages zu haben.

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FOTO: DPA Kubinka, Russland: ein neuer Marschflug­körper vom Typ 9M729 (Nato-Code: SSC-8), im Hintergrun­d die Startvorri­chtung.

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