Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Keine Ernte ohne Helfer
Die Bauern im Südwesten sind auf Saisonarbeiter aus dem Ausland angewiesen – Doch wegen der Corona-Krise werden viele nicht kommen
„Jeder landwirtschaftliche Betrieb ist jetzt wichtig.“
Martin Muth, Hopfenbauer aus Tettnang
RAVENSBURG - Die schlechte Nachricht bekommt Martin Muth, Hopfenbauer aus Tettnang, per Facebook: Vier seiner rumänischen Saisonarbeiter stecken an der ungarischen Grenze fest. Sie wollen nach Deutschland, werden aber nicht durchgelassen. Eigentlich kommen sie seit Jahren im Frühjahr auf den Hof der Familie Muth, um zu helfen. Zu dieser Zeit werden die Hopfentriebe geschnitten, die Rankdrähte gespannt, um die die Pflanzen dann gewickelt werden. „Das ist zum Teil aufwendige Handarbeit“, sagt Muth, „und außerdem die Grundlage für das gesamte Hopfenjahr.“Um das zu schaffen, braucht Muth die Saisonkräfte – und zwar dringend.
Doch wegen des Coronavirus werden immer mehr Grenzen geschlossen. Die Saisonkräfte, die überwiegend aus Osteuropa kommen, können teilweise nicht nach Deutschland einreisen. Andere bleiben von sich aus in ihren Heimatländern, weil sie Angst vor einer Ansteckung haben. Die Landwirte im Südwesten und bundesweit stellt das vor ein großes Problem. „Wir sind ratlos“, fasst Martin Muth die Situation zusammen.
Die betroffenen landwirtschaftlichen Betriebe würden sich große Sorgen machen, sagt auch Ariane Amstutz, Sprecherin des Landesbauernverbands. 30 Prozent der Erntehelfer, die in Baden-Württemberg normalerweise tätig sind, hätten bereits abgesagt. In der gesamten deutschen Landwirtschaft seien jährlich rund 300 000 Saisonarbeiter beschäftigt. In Baden-Württemberg sind es laut einer Erhebung des Statistischen Landesamtes etwa 79 000.
Neben Hopfenbauern wie Martin Muth sind Obst- und Gemüselandwirte besonders betroffen. Der Spargel steht kurz vor der Ernte, ebenso Salate, Rharbarber, gefolgt von Radieschen und Erdbeeren sowie Beerenobst. Es geht nicht nur um Erntearbeiten, sondern auch um das Anpflanzen. „Die Pflanzen sind bestellt – ob Salat, Kohl oder Brokkoli – das muss jetzt raus aufs Feld und gepflanzt werden. Dazu brauchen wir unsere Saisonarbeitskräfte“, sagte Bauernpräsident Joachim Rukwied bei einer Pressekonferenz mit Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) am Montag.
Die schlimmste Entwicklung, die infolge des Mitarbeitermangels eintreten könnte, wäre der Ernteausfall und somit erhebliche Ertragsausfälle, konstatiert Ariane Amstutz vom Landesbauernverband. Für die Tettnanger Hopfenbetriebe kann Jürgen Weishaupt das bestätigen. Der Geschäftsführer des Hopfenpflanzerverbands Tettnang, zu dem 130 Betriebe gehören, sagt, dass allein im Anbaugebiet Tettnang, das 2,5 Prozent der weltweiten Hopfenfläche darstelle, 700 bis 800 Helfer gebraucht werden. Aber wenn diese ausfielen und der Hopfen nicht an den Draht komme, stünde in der Folge das gesamte Jahreseinkommen und damit die Existenz von vielen landwirtschaftlichen Betrieben auf dem Spiel, erläutert Weishaupt. Er fordert: „Neben dem freien Warenverkehr in der EU, der Reisefreiheit für Berufspendler muss auch die Reisefreiheit für zeitlich befristete Saisonarbeiter in der EU gewährleistet bleiben.“
Darüber, ob und inwiefern diese Reisefreiheit gewährleistet ist, gab es in dieser Woche viele Diskussionen und offene Fragen. Am Mittwoch – so berichtet der Verband Süddeutscher Spargel- und Erdbeeranbauer – seien Saisonarbeitskräfte selbst in Deutschland trotz des Nachweises von Arbeitsverträgen am Frankfurter Flughafen von der Bundespolizei abgewiesen worden.
Am Donnerstag klärte das Bundesinnenministerium: Die Einreise nach Deutschland sei aus berufsbedingten Gründen – unabhängig von der Staatsangehörigkeit – zulässig und nennt im Speziellen die Saisonarbeitnehmer. Allerdings sei dies nur bei Nachweis mehrerer Unterlagen, wie unter anderem dem Arbeitsvertrag, Auftragsunterlagen oder der Grenzgängerkarte möglich.
Wenn also alle geforderten Unterlagen vorliegen, sollte die Einreise an der deutschen Grenze – also auch per Flugzeug – möglich sein. Das Problem bestehe weiterhin für diejenigen, die aus Rumänien oder Bulgarien kommen und beispielsweise mit dem Bus durch Transitländer reisen wollen, bestätigt ein Sprecher des Bundeslandwirtschaftsministeriums auf Nachfrage der „Schwäbischen Zeitung“am Donnerstagnachmittag. „Da haben wir natürlich keinen Einfluss drauf, ob diese Länder die Saisonarbeiter durchlassen“, sagt er.
Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner appelliert deshalb in einem Brief, der der „Schwäbischen Zeitung“vorliegt, an den Chef des Bundeskanzleramtes Helge Braun (CDU): „Deutschland sollte in Gesprächen mit den Transitländern nach
Lösungen suchen, die eine Durchreise der Saisonarbeitskräfte aus zum Beispiel Rumänien nach Deutschland ermöglichen.“Sie schlägt eine Passierscheinregelung für ausländische Saisonarbeitskräfte vor.
Mehrere deutsche Mitglieder des Europäischen Parlaments, auch der Ravensburger Norbert Lins (CDU), wenden sich ebenfalls in einem Brief am Donnerstag an EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und plädieren für „eine kurzfristige, EU-weite Lösung, sodass die national erlassenen Maßnahmen überhaupt wirksam werden können.“In Anbetracht der Bedeutung der Landwirtschaft für die Versorgungslage seien Ausnahmeregelungen gerechtfertigt, schreiben sie.
Damit treffen sie beim Tettnanger Hopfenbauern Martin Muth einen Nerv. „Jeder landwirtschaftliche Betrieb ist jetzt wichtig“, sagt Muth. „Ohne den Getreidebauern bekommt man kein Brot, ohne den Viehwirt kriegt man kein Fleisch und keine Milch, ohne den Gemüsebauern kein Gemüse. Das sind die essenziellen Lebensmittel, alles andere stufe ich in der Krise als Luxus ein“, sagt er.
Der Deutsche Bauernverband und andere Verbände der Agrarbranche fordern deshalb noch weitere Schritte – um die erforderlichen Arbeiten zur Lebensmittelversorgung trotz weniger Saisonarbeitskräfte erledigen zu können: zum Beispiel eine Verlängerung der täglichen und wöchentlichen Höchstarbeitszeiten oder auch eine Verbesserung der Hinzuverdienstmöglichkeiten für Arbeitslose, Asylbewerber oder Bezieher von Kurzarbeitergeld.
Bundeslandwirtschaftsministerin Julia Klöckner (CDU) hatte schon am Montag „unkonventionelle Wege“angeregt. „Ob diejenigen Mitarbeiter, die in der Gastronomie leider immer weniger zu tun haben, in der Landwirtschaft einspringen können und möchten – auch so etwas müssen wir überlegen“, sagte sie.
Hubert Hengge ist da schon einige Schritte weiter. Er ist Geschäftsführer des Maschinenrings Tettnang, dem die Plattform Bodensee-Bauern angeschlossen ist. Die Plattform macht sich für die Belange von Junglandwirten am See stark – und die sind den unkonventionellen Weg schon längst gegangen: Anfang der Wochen posteten sie bei Facebook einen Hilferuf: „Lust auf Kontakt mit Mutter Erde? – wir suchen dringend helfende Hände!“, schrieben sie. Ambitionierte Mitschaffer seien gesucht: Studenten und Studentinnen und Menschen, die fit sind und gerne körperlich in der Natur arbeiten.
Und die Rückmeldungen ließen nicht lange auf sich warten: „So was haben wir noch nie erlebt“, sagt Hengge. 650 000 mal sei der Aufruf in 24 Stunden geteilt worden. „Das war überwältigend für uns, dass diese große Bereitschaft da ist“, sagt Hengge im Gespräch mit der „Schwäbischen Zeitung“. Da so viele Anfragen gekommen seien, habe man sich kurzerhand entschlossen eine Jobbörse zu programmieren, um Bewerber und Betriebe zusammenzuführen. Damit die Bauern im Südwesten in der Pflanzund Erntezeit trotz Corona-Krise und möglicherweise fehlender Saisonarbeiter Unterstützung bekommen.