Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Sieger vor Abbruch
Hamsat Shadalov boxt sich in London nach Tokio, trotz der so besonderen Umstände – Nun bangt der 21-jährige Berliner um Olympia
BERLIN/LONDON (dpa) - Nach dem Kampf seines Lebens bekam Hamsat Shadalov kein Auge zu. Dabei wollte es der Berliner Boxer nicht einmal krachen lassen, sondern nach der erfolgreichen Olympiaqualifikation einfach nur schlafen. „Aber das ging nicht. Es war so ein unbeschreiblich glückliches Gefühl in mir.“Ziemlich unbeschreiblich war auch das, was sich in den Tagen des Turniers in London abgespielt hat.
Trotz der Coronavirus-Pandemie und der Bedenken vieler Nationen wurde die Qualifikation in der Olympiahalle von 2012 gnadenlos durchgezogen. An den ersten beiden Tagen waren sogar Zuschauer zugelassen. Am dritten Tag drohten einige Verbände mit der sofortigen Abreise – und die Box-Taskforce des Internationalen Olympischen Komitees knickte ein. Am Montagabend war der Spuk vorbei.
Doch kurz bevor die Copper Box Arena abgeriegelt wurde, verwirklichte Hamsat Shadalov seinen
Traum. „An Olympia denke ich, seit ich klein bin. Dieser Gedanke war von Anfang an da“, sagt der 21-Jährige. Im Achtelfinale bekam er Europameister Kurt Walker vor die Nase gesetzt – und dominierte den Iren nach Belieben. 5:0-Sieg, Tokio-Ticket, Freudenschreie und ein tschetschenischer Volkstanz im Ring.
Dabei hatte der deutsche Verband Hamsat Shadalov zunächst im Unklaren über den Abbruch gelassen. „Sie wollten, dass ich den Fokus auf den Kampf nicht verliere, und mich nicht belasten. Aber man kriegt ja trotzdem mit, dass da irgendwas im Gange ist.“
Ohnehin sei es während der am Ende dreitägigen Veranstaltung abseits des Rings immer darum gegangen, wann denn abgebrochen werde. Das habe ganz schön verwirrt, berichtet Hamsat Shadalov.
Trotz der wohl einmaligen Umstände aber habe Angst nie eine Rolle gespielt. „Es wurde jeden Morgen Fieber gemessen, jeder wurde gecheckt“, berichtet Shadalov, der mit Boxern aus Italien in einem Hotel wohnte. Allerdings waren diese, wie auch die Deutschen, schon länger in Großbritannien. „Jeder war auf Olympia konzentriert. Eigentlich haben wir eher gehofft, dass das Turnier
zu Ende gebracht werden kann.“Doch am Dienstagmorgen reiste der in Grosny geborene Federgewichtler um 6 Uhr zurück in die Heimat. Und seitdem hofft er, dass „Olympia nicht abgesagt wird“. Er sei optimistisch und trainiere weiter. Seinen TokioStartplatz
hat Hamsat Shadalov zweifellos sicher. „Die Ergebnisse von London bleiben bestehen. Das habe ich mir versichern lassen“, bekräftigt Michael Müller, Sportdirektor des Deutschen Box-Verbandes.
Hamsat Shadalov, der mit seinen Eltern als Dreijähriger nach Deutschland geflohen war, hat seine Jugend für Olympia geopfert. Mit acht Jahren begann er mit dem Boxen, vier Jahre später ging’s auf die Sportschule. Für Tokio setzte Shadalov – Kampfname „Tschetschenischer Wolf “– alles auf eine Karte, unterbrach auch seine Ausbildung zum Sport- und Fitnesskaufmann. Von April an ist er Mitglied der Sportfördergruppe der Bundeswehr.
Zuletzt war Hamsat Shadalov wochenlang in Kasachstan und in England im Trainingscamp, um sich den letzten Schliff für die Qualifikation zu holen. „Ich trage Olympia in meinem Herzen“, sagt er jetzt. Und hofft, genau das im Ring unter den fünf Ringen zeigen zu können.