Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
„Wir müssen alle an einem Strang ziehen“
Virologe Thomas Mertens mahnt in der Corona-Krise zu mehr Disziplin und Geduld – Der Experte erklärt, wie das Virus weiter unser Leben bestimmen wird
RAVENSBURG - Während das Coronavirus inzwischen das öffentliche Leben lahmgelegt hat, haben manche Menschen offenbar den Ernst der Lage noch nicht begriffen. Daniel Hadrys hat mit Professor Thomas Mertens, dem Vorsitzenden der Ständigen Impfkommission am Robert Koch-Institut (RKI), über die Gefährlichkeit des Virus, Herdenimmunität und Prognosen für die Zukunft gesprochen.
Herr Professor Mertens, was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie Fotos von Hunderten Menschen auf dem Münchner Viktualienmarkt sehen oder von „CoronaPartys“in Freiburg hören?
Für mich als Virologe und Epidemiologe ist kaum verständlich, dass es manchen Menschen so schwerfällt, an einem Strang zu ziehen. Denn das müssen wir. Auf der anderen Seite verstehe ich, dass manche Jugendliche vielleicht nicht bis ins Letzte darüber nachgedacht haben und ihnen die Maßnahmen übertrieben vorkommen. Zweifellos ist aber das Einzige, was wir derzeit tun können, die Anzahl der Neuinfektionen zu reduzieren. Es geht nicht um die Gefährdung dieser Jungen oder Mädchen, die eine Party feiern. Es geht darum, dass sie das Coronavirus übertragen können. Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob ein Infizierter durchschnittlich zwei oder drei weitere Personen ansteckt, die dann wieder drei Menschen anstecken, was zu neun Infizierten führt, dann zu 27 und danach zu 81 und so weiter.
Bundes- und Landesregierungen denken auch über Ausgangssperren nach. Bayerns Ministerpräsident Söder hat eine Ausgangsbeschränkung verhängt. BadenWürttemberg verschärft die Regeln. Halten Sie dies für effizient?
Wenn alle Menschen ab sofort zehn oder 14 Tage zu Hause blieben, dann würde sich ganz sicher die Kurve der Neuinfektionen günstig verändern. Im Idealfall würde sich die Kurve einer Waagerechten annähern. Dass Maßnahmen wie eine Ausgangssperre funktionieren, hat sich bereits während der Ausbreitung der Spanischen Grippe 1918 in den Vereinigten Staaten gezeigt. Die verschiedenen Großstädte haben unterschiedliche Maßnahmen ergriffen. Je nachdem, wie stark die Beschränkung war, desto weniger Todesfälle gab es. Das Reduzieren der zwischenmenschlichen Kontakte ist zweifellos entscheidend. Das Problem der Politik ist aber weniger die Frage, was aus
ANZEIGE epidemiologischer Sicht sinnvoll wäre, sondern was den Menschen zugemutet werden kann.
Die Menschen, die ihr Leben derzeit normal weiterführen, sagen oft, das Coronavirus sei nicht schlimmer als eine normale Grippe. Für wie gefährlich halten Sie den Erreger?
Sie verkennen die Situation völlig. Bei der saisonalen Grippe gibt es eine erhebliche Basisimmunität innerhalb der Bevölkerung und eine Impfung, beides gibt es bei dem neuen Coronavirus nicht. Bei dem jetzigen sehr steilen Anstieg an Infektionen steigt auch entsprechend die Zahl der Menschen, die im Krankenhaus behandelt werden müssen – auch wenn das vielleicht nur 15 Prozent sind. Von ihnen müssen einige wiederum intensivmedizinisch behandelt und eventuell beatmet werden. Auch unser an sich sehr gutes Gesundheitssystem hat eine begrenzte Kapazität. Wir haben 28 000 Beatmungsplätze in Deutschland. Davon sind derzeit vielleicht 80 Prozent belegt. Man kann sich leicht ausrechnen, wie viele Möglichkeiten es noch gibt, Schwerstkranke mit Beatmungsbedarf zu behandeln. Die Zahl an Beatmungsplätzen soll zwar erhöht werden, aber das ist nicht so einfach. Wir wollen nicht in die Situation kommen, dass Ärzte entscheiden müssen, welche Menschen sie beatmen und welche nicht. Das wäre aber die Konsequenz, wenn wir mehr Kranke haben als Möglichkeiten, sie zu behandeln.
In Italien ist dieser Fall bereits eingetreten. Dort sterben täglich Hunderte Menschen an den Folgen des Coronavirus. Die Zahl der Todesopfer in Deutschland ist noch vergleichsweise gering. Welchen Einfluss haben das Gesundheitssystem und die Demografie eines Landes auf die Mortalitätsrate? Beides hat einen großen Einfluss auf die Sterblichkeitsrate. In Italien sind bereits ganz offenbar in der ersten Infektionswelle viele ältere Menschen infiziert worden. Diese haben ein besonderes Risiko, bei einer Infektion schwer zu erkranken und zu sterben, und wir gehen davon aus, dass es die Infektion in Italien schon früher gab. Als die ersten Kranken auftraten, war das nur die Spitze des Eisbergs. Aber auch die Behandlungsmöglichkeiten spielen eine Rolle. Je stabiler die Krankenhaussituation ist, desto besser. Wenn in Deutschland viele Menschen erkranken, was ganz klar zu erwarten ist, und es nicht gelingt, die Anzahl der Neuinfektionen zu senken, wird es aber auch bei uns mehr Schwerstkranke und mehr Todesfälle geben.
Menschen merken lange nicht, dass sie infiziert sind. Halten Sie das Konzept der sozialen Distanz oder aber flächendeckende Tests – wie in Südkorea – für erfolgversprechender?
Das sind keine Widersprüche. Die soziale Kontakthemmung ist ein sehr wichtiger Faktor. Der wird auch in Südkorea nicht durch Testungen ersetzt. Es ist aber ein Vorteil, wenn man weiß, wer infiziert war und wer noch nicht. Diese wichtige Zahl kennen wir in ganz Europa nicht. Sie würde uns aber helfen, die Dynamik der Infektion besser zu verstehen. Es würde zeigen, wer durch eine möglicherweise unbemerkte Infektion immun ist und kein weiteres Risiko mehr hat. Doch es fehlen Testkapazitäten. Zudem gibt es noch keinen zuverlässigen Antikörpertest. Mit unseren jetzigen Methoden, die das Virusgenom nachweisen, ist eine Infektion nur 14 Tage oder vielleicht drei Wochen nachweisbar. Die aktuellen Methoden zum Antikörpernachweis, die langfristig eine durchgemachte Infektion nachweisen, können noch nicht zwischen den „normalen Coronaviren“, die es schon immer bei uns gibt, und dem neuen Coronavirus unterscheiden. Es wird natürlich vielerorts an solchen serologischen Antikörpernachweistesten gearbeitet.
Südkorea und China melden sinkende Infektionszahlen. Riskieren diese Länder eine erneute Ausbreitung, wenn sie schrittweise zur Normalität zurückkehren?
Ja. Eine zweite Welle ist zu erwarten, wenn man die erfolgreichen Restriktionen jetzt unvernünftig weit lockert.
Ab wann kann man sagen, dass das Schlimmste überstanden ist?
Es wird nicht so schnell vorbei sein. Erst wenn 70 bis 80 Prozent einer Bevölkerung infiziert waren, wird sich die Infektionsausbreitung deutlich verlangsamen. Wenn ein Infektiöser sich innerhalb dieser Population bewegt, sind dann die meisten nicht mehr infizierbar. Dann setzt die sogenannte Herdenimmunität ein. Wenn man dann die erkannt Infizierten weiterhin isoliert, hat dies einen zusätzlichen Effekt.
Wie lange wird es dauern, bis wir eine Herdenimmunität haben?
Das kann derzeit niemand seriös vorhersagen.
Länder wie Großbritannien setzen auf dieses Konzept der Herdenimmunität. Möglichst viele, gesunde, junge Menschen sollten sich mit dem Coronavirus anstecken. Wie schätzen Sie dieses Konzept ein?
Theoretisch kann Großbritannien sagen: Wir lassen das Virus sich ausbreiten und schützen nur die Über-70-Jährigen. Aber es birgt die enorme Gefahr, dass das Medizinsystem vorher zusammenbricht. Gerade in England ist diese Gefahr sehr groß – deren Krankenhaussystem ist nicht das beste. Es bricht schon bei einer mittleren Grippewelle zusammen. Wenn man eine Durchseuchung früh erreicht hat, ist zwar der Spuk schneller vorbei. Ich glaube aber, dass man dieses harte Konzept nicht verantworten kann. Man muss vielmehr wie die anderen europäischen Länder versuchen, die Ausbreitung zu bremsen. Der Großteil der Erkrankten ist bei uns übrigens zwischen 35 und 59 Jahre alt, in China liegt der Durchschnitt bei 51 Jahren. Es wird immer so getan, es würden nur alte Menschen krank durch das Coronavirus. Aber das stimmt nicht.
Wird das Coronavirus irgendwann wieder verschwinden? Oder wird uns der Erreger ab sofort ständig in epidemischen Wellen begleiten, wie es beispielsweise bei den Influenzaviren der Fall ist?
Nach dem, was man heute weiß, glaube ich das nicht. Das InfluenzaA-Virus kann sich auch in Tieren vermehren und verändert sich ständig. Das Coronavirus verändert sich wie jedes andere RNA-Virus zwar auch. Es hat aber ein Reparaturenzym, das diese Möglichkeiten begrenzt. Aber so schnell los werden wir es nicht. Bis es die Weltbevölkerung durchseucht hat, dauert es noch. Und es werden Menschen nachgeboren, die infiziert werden können. Das Coronavirus wird nicht verschwinden, es wird aber auch nicht mehr groß und saisonal in Wellen auftreten wie die Influenzaviren.
Heißt das: Die Weltbevölkerung muss einmal da durch, dann verliert das Coronavirus seinen Schrecken?
In gewisser Weise ja. Vor allem werden die Infektionszahlen danach niedrig sein. Das Virus wird zwar den Schrecken für die Bevölkerung verlieren. Für den Einzelnen, beispielsweise alten Menschen, bleibt das Coronavirus gefährlich, bis es eine gute Impfung oder eine sichere Therapie gibt. Die Entwicklung eines effektiven Impfstoffes wäre die einzige Möglichkeit, das Problem dieses Virus grundsätzlich zu lösen.