Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Interview „Wer hat die besten Aussichten?“
Was tun, wenn medizinische Ressourcen knapp werden und nicht jeder Patient gleich gut behandelt werden kann? – Moraltheologe Eberhard Schockenhoff erklärt, wie Ärzte, Krankenschwestern und Pfleger in Notsituationen handeln sollten
FREIBURG - Der katholische Moraltheologe Eberhard Schockenhoff aus Freiburg ruft dazu auf, in extremen Notlagen medizinische Prognosen als Kriterium für die Weiterbehandlung von Patienten zu bewerten. Die ärztliche Behandlung müsse unter der Frage stehen: „Wer hat die besten Aussichten?“Das heißt: Bei wem können die geringen vorhandenen medizinischen Ressourcen aller Voraussicht nach die beste Wirkung erzielen? Im Gespräch mit Ludger Möllers fordert er aber zunächst dazu auf, alles zu tun, um diese Entscheidungssituationen zu vermeiden.
Welche ethischen und moraltheologischen Fragen bewegen die Menschen und auch Sie selbst im Moment am stärksten?
Das öffentliche Interesse und der Beratungsbedarf der Regierung und Verwaltung konzentrieren sich im Augenblick stärker auf die fachlichen Aspekte der Virologie, also die Inkubationszeit, das Auftreten, die Erscheinungsformen des Coronavirus. Aber es brechen natürlich anhand der drastischen Maßnahmen, die zum Schutz der Bevölkerung angeordnet wurden, ethische Fragen auf. Wir sprechen vor allem darüber, nach welchen Kriterien knappe medizinische Güter und Ressourcen zugeteilt werden, wenn eine Situation absehbar ist, in der nicht alle, die sie benötigen, diese tatsächlich bekommen können.
Wo besteht Bedarf, beraten zu werden? Wo versprechen sich Menschen Orientierung?
Die Debatte dreht sich um die zentralen Punkte: Nach welchen Kriterien soll eine Zuteilung möglich sein, wenn aufgrund von Knappheit nicht alle, die eine Behandlung benötigen, diese tatsächlich erhalten können? Das sind im Augenblick eher theoretische Debatten, die geführt werden, weil wir zum Glück in dieser Situation ja nicht sind. Das muss man immer wieder unterstreichen. Die jetzt verfügten Maßnahmen, so einschneidend sie sind, verfolgen ein Ziel: dass wir nie in diese Situation geraten, in der wir Patienten, die schwer krank sind, eine für sie dringend benötigte Behandlung versagen müssen, weil wir nicht genügend Ressourcen haben. Es soll ja gerade die Absicht sein, diese Situation überhaupt nicht entstehen zu lassen, weil sie sich im Grunde nicht in befriedigender Weise, in moralisch akzeptabler Weise auflösen ließe.
Ist es richtig, Menschen mit guten Heilungsaussichten bessere Behandlung zu versprechen und sie ihnen zuteilwerden zu lassen?
Grundsätzlich natürlich nicht. Grundsätzlich gilt, das ist das Grundprinzip der ärztlichen Ethik, dass jedem Patienten die für ihn notwendige medizinische Versorgung zuteilwerden soll. Dabei steht der Bedarf des einzelnen Kranken im Vordergrund. Das setzt voraus, und das ist die Normalsituation, die wir angesichts unseres gut entwickelten, hochstehenden Gesundheitssystems in der Regel voraussetzen dürfen, dass wir über ausreichend Behandlungsmöglichkeiten verfügen. Und genau diese in der Regel gegebene Situation könnte, wenn die Entwicklung und die Ausbreitung des Coronavirus ungebremst verläuft, am Ende in eine Knappheitssituation münden. Und das möchte man nach Möglichkeit verhindern.
In dieser Knappheitssituation wird dann ja möglicherweise die sogenannte Triage angewandt. Wir sehen das heute bei sehr großen Unfällen und auch auf den Bildern, die uns aus Italien erreichen. Wie steht denn die Moraltheologie zu diesem Mittel in der Notfallmedizin?
Das Instrument der Triage hat seinen Ursprung tatsächlich in der Militärmedizin, dann bei großen Naturkatastrophen oder bei Unfällen von einem gigantischen Ausmaß: Wenn plötzlich eine Überzahl von Patienten
behandlungsbedürftig ist und die dafür bereitgehaltenen Kapazitäten nicht ausreichen. Dann versucht man im ersten Schritt eine weitere Streuung der Patienten vorzunehmen. Das ist in unserem Nachbarland Frankreich derzeit der Fall. Dort werden aus dem Elsass, aus den am meisten betroffenen Regionen, schwerkranke Patienten in andere Behandlungsgebiete, also etwa nach Südfrankreich in die dortigen Hospitäler ausgeflogen.
Und der zweite Schritt?
Natürlich könnte theoretisch eine Situation eintreten, in der das nicht mehr möglich ist. Dann steht man vor dem Dilemma, dass man handeln muss, obwohl man das Grundgebot der ärztlichen Ethik, jedem Patienten die ihm erforderliche Versorgung zuteilwerden zu lassen, nicht mehr erfüllen kann. Das ist genau der Ursprung der sogenannten Triage. Im Krieg wurde die Triage häufig angewandt, wenn die Stabsärzte nach dem Kampfgeschehen so viele Verwundete vor sich hatten, dass sie nicht alle zugleich behandeln konnten. Dann nahmen sie eine Aufteilung in drei Gruppen vor. Man sonderte zunächst Leichtverletzte aus, die eine hohe Überlebenschance haben, auch wenn ihre Versorgung zu einem späteren Zeitpunkt erfolgte. Dann sonderte man diejenigen aus, denen geholfen werden konnte: Aber nur, wenn die Hilfe sofort erfolgte. Das ist nachvollziehbar.
Und der dritte Schritt?
Der problematischste Teil ist die dritte Gruppe, das sind Schwerverletzte, die eine nur geringe Überlebenschance haben, selbst dann, wenn ihnen sofort Hilfe zuteilwird. Die hat man dann ihrem Schicksal überlassen.
Ist die Triage mit dem ärztlichen Ethos vereinbar?
Eigentlich ist die Triage nach ärztlichem Ethos überhaupt unmöglich. Zumindest eine palliativmedizinische Versorgung müsste jedem zuteilwerden können. Aber nach allem, was man aus Italien, aus den am meisten betroffenen Gebieten hört, ist selbst das dort nicht mehr möglich. Umso dringlicher ist das Bestreben, dass wir in Deutschland versuchen, eine solche Situation, die sich nicht mehr beherrschen lässt, überhaupt nicht entstehen zu lassen.
Ist die Triage mit dem Grundsatz, dass jedes Leben gleich viel wert ist, überhaupt vereinbar?
Auf den ersten Blick nicht. Aber wenn man genau hinschaut, sieht man ja: Es wird nicht eingeteilt, dass das eine Leben wertvoller als das andere ist. Denn an sich ist klar, dass jeder kranke Patient eine Behandlung verdient. Es stellt sich nicht die Frage: Ist der eine in geringerem Maße würdig, behandelt zu werden als ein anderer? Sondern jeder sollte behandelt werden. Wenn aber nicht genügend Kapazitäten dafür vorhanden sind und diese sich nicht ausweiten lassen, dann muss man eine Zuteilung vornehmen. Dies geschieht unter der Frage: Wer hat die besten Aussichten? Das heißt: Bei wem können die geringen vorhandenen medizinischen Ressourcen aller Voraussicht nach die beste Wirkung erzielen?
Kann man diese Fragen dem Personal im Gesundheitswesen zumuten?
Für die beteiligten Ärzte und Pflegepersonen erscheint es eine hohe psychologische Belastung zu sein, eine solche Zuteilung vornehmen zu müssen. Man müsste sie ihnen, solange es irgendwie geht, ersparen. Aber wenn sie unabwendbar ist, dann erkenne ich nicht, warum sie aus ethischen Gründen nicht vertretbar sein sollte. Die einzige realistische Alternative wäre ja Nichthandeln und durch Nichthandeln einen noch größeren Personenkreis sterben zu lassen. In dieser Alternative zwischen der Möglichkeit, Leben, wenn auch nur das Leben weniger zu retten, und nichts zu tun, muss ein Arzt sich immer für die Option Lebensrettung entscheiden, auch wenn er sie nicht mehr allen zugutekommen lassen kann.
Darf denn bei der Entscheidung in dieser Triage eine Rolle spielen, welche gesellschaftliche Position, welche Effektivität, welche Rolle in der Gesellschaft, welche Relevanz in der Gesellschaft für das Funktionieren dieser Gesellschaft der Patient oder die Patientin hat?
Nein, das darf nur von den medizinischen Heilungschancen her erfolgen.
Wenn zum Beispiel ein Universitätsprofessor oder ein hoher Beamter erkrankt, und auf der anderen Seite ein Rentner mit den gleichen Heilungschancen: Darf die Position des Erstgenannten eine Rolle spielen?
Wenn es wirklich die gleiche medizinische Heilungsprognose ist: nein. Aber es kann natürlich sein, dass der Rentner aufgrund von Vorerkrankungen in einer schlechteren Ausgangssituation ist: Das dürfte dann berücksichtigt werden. Aber nur das Alter als solches allein reicht nicht aus, um eine solche Auswahlentscheidung zu begründen.
Wer trifft dann die Auswahl? Ist das ein Gremium oder wer entscheidet?
Ich betone nochmals: Wir müssen alles tun, und das ist ja der Sinn der jetzt getroffenen Maßnahmen, das Auftreten einer derartigen Situation zu verhindern. Und zwar deshalb, weil es keine ausreichenden und wirklich zufriedenstellenden Kriterien gibt. Und es wäre eine Zumutung für das ärztliche und pflegerische Personal, eine solche unzureichende Kriterienliste anwenden zu müssen.
Welche Kriterien gibt es vonseiten der Moraltheologie?
Wenn es denn zu einer solchen Situation überhaupt kommen sollte, was hoffentlich in Deutschland nie der Fall sein wird, dann wäre das einzige in dieser extremen Notlage ethisch vertretbare Kriterium das der medizinischen Prognose.
Kann eine Pandemie eine Chance sein, dass wir Werte wie Nächstenliebe, Solidarität, Wertschätzung ganz neu entdecken?
Immer, wenn Menschen auf extreme Notlagen zurückgeworfen werden, wo ihre sonstigen Ablenkungen und Sicherungen versagen, wird ihnen deutlich, welche Werte tatsächlich dem Leben Sinn geben und welche eben keine Werte darstellen, die dann versagen, wenn man wirklich Hilfe bräuchte.
Ist das die Übersetzung von „Not lehrt beten“?
Man darf die Not nicht herbeiwünschen, um das Ziel, beten zu lernen, wieder zu erreichen. Aber tatsächlich ist es so, dass von Notlagen eine Hilfe zur Besinnung ausgeht. Dies führt für viele Menschen dazu, dass sie umkehren und ihrem Leben eine neue Ausrichtung geben.
Darf der Staat denn überhaupt so massiv in die Freiheitsrechte eingreifen wie im Augenblick?
Er darf es in einer Notsituation, für deren Abwendung oder für die Abwendung der größten Gefahren in ihr diese Einschränkungen verhältnismäßig sind. Aber es muss überprüft werden, ob die Verhältnismäßigkeit weiter besteht. Erst wenn man diese Frage bejahen kann, dann ist die Notmaßnahme legitim. Das gehört sogar zu den wesentlichen Aufgaben des Staates. Das ist uns in guten Zeiten oft nicht bewusst. Aber man kann sagen: Der Staat entsteht aus der Notsituation der Bürger heraus, die sich alleine nicht helfen können und die sich deshalb zusammenschließen, um gemeinsame Hilfe zu organisieren.
Also sind die Maßnahmen richtig?
Das ist richtig und kann in extremen Situationen unvermeidbar sein. In unserer Bevölkerung ist in weiten Kreisen das Bewusstsein gewachsen, wenn es vielleicht nicht von Anfang an vorhanden war, dass die jetzige Corona-Pandemie tatsächlich eine solche außerordentliche Herausforderung darstellt, die außergewöhnliche Maßnahmen rechtfertigt.
Wo wird unser Land nach der Krise stehen?
Es wird auf jeden Fall einen wirtschaftlichen Rückschlag geben. Wie hoch der ausfallen wird, lässt sich jetzt noch nicht abschätzen. Auf der Kehrseite werden wir uns vielleicht auch wieder darauf besinnen, dass es noch wichtigere Werte als den Index der ökonomischen Entwicklung gibt: nämlich menschlichen Zusammenhalt, Solidarität, Hilfsbereitschaft. Und wenn das dann tatsächlich zu neuem Leben erwacht wäre, dann wäre das für die Zukunft unseres Landes kein schlechtes Ergebnis.
Die volle Version dieses Interviews ist nachzulesen unter: www.schwäbische.de/schockenhoff