Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
„Wir haben uns selber aus dem Sumpf gezogen“
Zeiss-Chef Kaschke über das Erfolgsgeheimnis des Konzerns und über sein künftiges Leben in der Wissenschaft
OBERKOCHEN - Zehn Jahre lang hat Michael Kaschke als Chef des Technologiekonzerns Zeiss zu jeder Bilanzpressekonferenz Rekordzahlen verkündet. Ende März verlässt er nun das Unternehmen aus Oberkochen. Seine Abschiedstage hat sich der 62Jährige anders vorgestellt, schließlich trifft die Corona-Pandemie auch die Wirtschaft im Ostalbkreis hart. Doch für die Zeit nach der Krise sieht Kaschke den Konzern durch den konsequenten Fokus auf Innovationen gut gerüstet. Im Interview mit Benjamin Wagener und Andreas Knoch erklärt der Physiker, wie die Wirtschaft Grundlagenforschung in marktgerechte Produkte verwandeln kann und dass er sich künftig wieder verstärkt der Wissenschaft widmen will.
Herr Kaschke, nach zehn erfolgreichen Jahren geben Sie den Chefposten bei Zeiss ab. Warum?
Ich bin jetzt 20 Jahre im Vorstand, davon zehn Jahre Vorstandschef – das ist ein guter Zeitpunkt, die Verantwortung an das Team zu übergeben, mit dem ich in den letzten Jahren eng zusammengearbeitet habe.
Was machen Sie von April an?
Das Wichtigste, was ich gewinne, ist die Herrschaft über meinen Kalender. Und ich werde mit eiserner Selbstdisziplin darauf aufpassen, dass ich ihn sinnvoll fülle, ihn aber auch nicht zu voll mache. Darauf freue ich mich am meisten, dass die Auswahl der Dinge, die ich tue, wieder in meiner Hand liegt.
Im Oktober haben Sie das Amt des Aufsichtsratschef beim Karlsruher Institut für Technologie (KIT) übernommen. Wird künftig die universitäre Forschung und Lehre Ihr Leben bestimmen?
Da muss man kein Weissager sein, der Aspekt wird sicher einen wesentlichen Teil meines Lebens ausmachen. Das war mir aber auch schon zuvor wichtig, schließlich halte ich seit mehr als zehn Jahren Vorlesungen am KIT. Für mich hat die Verbindung von Wirtschaft und Wissenschaft einen hohen Stellenwert – und gerade für Deutschland ist es wichtig, das besser hinzubekommen.
Welche Dinge liegen denn bei der Verbindung von Wirtschaft und Wissenschaft im Argen?
Da gibt es drei Dinge. Wir haben im Vergleich zu angelsächsischen Ländern de facto getrennte Biografien. Sie bleiben entweder in der Wirtschaft oder in der Wissenschaft, einen Austausch gibt es kaum. In den USA gibt es viele Professoren, die Unternehmen gründen. Hier muss sich meiner Meinung nach etwas ändern. Meine Vorlesung am KIT, wie man medizinische Geräte aus optischen Innovationen entwickelt, begeistert die Studenten.
Punkt zwei?
Wir haben hier in Deutschland eine übertriebene Auffassung des humboldtschen Ideals von der Freiheit von Forschung und Lehre. Wenn sich die Wirtschaft engagiert, ruft das irrationale Ängste hervor. Auch ich bin dagegen, dass die Wirtschaft bestimmt, was erforscht wird, aber Humboldt hat nicht gesagt, dass es gar keine Interaktion geben darf. Er wollte nur sicherstellen, dass der Forscher die notwendige Geistesfreiheit hat.
Und schließlich?
Der dritte Punkt – und daran trägt die Wirtschaft eine gewisse Mitschuld – sind die negativen Auswüchse der an sich positiven Bologna-Reform. Wir sehen vielfach einen verschulten Ablauf des Studiums mit dem Abarbeiten von einzelnen Elementen. Das hat nichts mit universitärer Bildung zu tun.
Wie ist die Wirtschaft mitschuldig?
Weil sie vor Jahren gefordert hat, dass die Absolventen möglichst mit 23 Jahren hochspezialisiert für einen Beruf ausgebildet sind, möglichst noch Auslandserfahrung haben sollten. Das ist völlig illusorisch. Von diesem Schnellzugsystem und dieser Hyperspezialisierung müssen wir wieder ein Stück wegkommen.
Wie sollte denn eine umfassende universitäre Bildung aussehen?
Der Rat meines Gymnasiallehrers hat mich zeit meines Lebens begleitet – und ich glaube, er hat recht. Er sagt, dass es vier Phasen des Lernens gibt. Drei, die man bewusst erlebt, und die vierte danach. In der Grundschule lernt man Lesen und Schreiben, im Gymnasium lernt man, wie man lernt. An der Universität lernt man, was man lernen kann – und dann beginnt das eigentliche Lernen.
Sie haben nach Ihrem Examen zuerst bei Forschungsinstituten gearbeitet, bevor Sie in die Wirtschaft gegangen sind. Was war der Grund für den Wechsel?
Das war ein länger währender Abnabelungsprozess. Irgendwann hatte ich bei meinen Forschungen das Gefühl, du machst etwas ganz Tolles, aber nur für eine sehr kleine Wissenschaftsgemeinde. Irgendwann kennt man alle, die führend sind auf dem jeweiligen Gebiet, die veröffentlichen und auf die Konferenzen kommen.
Sie haben als Gastwissenschaftler beim IBM Research Center in den USA gearbeitet. Sind Sie da der Wirtschaft näher gekommen?
Bei IBM habe ich erlebt, wie ein Riesenkonzern mit toller Forschung und auch einigen Nobelpreisträgern in eine existenzielle Schieflage kommen kann. IBM hatte ja gerade etwas die neue PC-Welt verpasst. Das hat schon Eindruck bei mir hinterlassen – und war auch meine erste Erfahrung mit Wirtschaftszahlen. Aber ich habe dort auch erlebt, wie IBM bahnbrechende Innovationen in Anwendung gebracht hat. Das war für mich der finale Impuls für den Wechsel.
Sie sind danach zu Zeiss gewechselt, einem Unternehmen, dem es Mitte der 1990er-Jahre wirtschaftlich sehr schlecht ging.
Stimmt, meine Due Diligence, also die genaue Prüfung des Unternehmens, hatte ich damals nicht richtig gemacht. Für mich war Zeiss einfach ein Unternehmen, das den Ruf hatte, eng mit der Wissenschaft verbunden zu sein. Ich hätte mir damals auch nie vorstellen können, Vorstand oder gar Vorstandschef zu werden. Allenfalls Leiter der Forschung. Ich wollte einfach zu einem Unternehmen, bei dem man Wissenschaft in der Wirtschaft machen kann.
Und nun ist aus einem Unternehmen in Schieflage ein gesunder Technologiekonzern geworden, der sehr viel in Forschung und Entwicklung steckt. Ist das der Grund, dass der Physiker in Ihnen die Verantwortung übernommen hat?
Ich bin nicht der erste Physiker als CEO bei Zeiss. Schon meine beiden Vorgänger haben den Fokus sehr stark auf Innovationen gelegt. Das war wichtig, denn wir haben uns mit Innovationen ganz nach dem Münchhausen-Prinzip selber aus dem Sumpf gezogen. Das ist Zeiss erst gelungen mit der Halbleitertechnik und dann auch mit der Medizintechnik, das waren die beiden Treiber, die uns dahin gebracht haben, wo wir heute stehen.
Was hat sich im Hinblick auf die Innovationen geändert?
Als ich zu Zeiss kam, gab es das Bonmot, dass Zeiss eine Universität mit angeschlossener Werkstatt ist. Das heißt, die Forschung stand im Vordergrund, und wenn es ein Produkt werden sollte, hat man es in einer kleinen Werkstatt zusammengebaut. Innovation funktioniert aber andersherum. Man muss von den Megatrends, den Märkten und Kunden her denken und die Wissenschaft in diese Richtung entwickeln.
Zeiss ist eines der wenigen Unternehmen in Deutschland, die sich noch Grundlagenforschung leisten. Wie wichtig ist das für den Erfolg des Unternehmens?
Wir leisten uns das, weil wir mit bestimmten Technologien Synergien zwischen verschiedenen Geschäftsfeldern erschließen. Ein Beispiel ist die Berechnung optischer Systeme – etwa in der Halbleitertechnik, der Medizintechnik oder der Fotografie. Diese Systeme sind inzwischen so komplex im Hinblick auf Mechanik, Optik und Beschichtung geworden, dass sie nur an Hochleistungscomputern
entwickelt werden können. Solche Computer und die entsprechenden Programme gab es nicht. Deshalb haben wir uns auf diesem Gebiet eigene Kompetenzen aufgebaut – und davon profitieren heute alle Bereiche bei Zeiss.
Was sind die drei spannendsten Produkte, die Zeiss in Ihrer Zeit als CEO auf den Markt gebracht hat?
Ganz oben steht da sicherlich die EUV-Lithografie – auch wenn ich selbst daran nicht direkt beteiligt war. Mit diesen Maschinen werden mit extrem-ultraviolettem Licht Computerchips mit unvorstellbar winzigen Strukturen hergestellt. Die EUV-Lithografie steht für mich auch deshalb an erster Stelle, weil wir uns, zusammen mit den Partnern Trumpf und ASML aus den Niederlanden, auf dem Gebiet eine technologische Führungsposition erarbeitet haben, an die kein Wettbewerber rankommt. Ich möchte aber die Kohärenztomografie für die Augendiagnostik und den Femtosekundenlaser für minimalinvasive Augenoperationen nennen. Bei Letzterem hatte ich einst als Doktorand gewettet, dass der nie seine Anwendung im täglichen Leben findet. Ich lag falsch damit.
Die EUV-Lithografie ist ein gutes Beispiel, wie Kooperationen über einen langen Zeitraum zum Erfolg führen. Sind Kooperationen der Schlüssel zum Erfolg in einer immer komplexer werdenden Welt?
Das glaube ich schon. In vielen Bereichen kann man heute nicht mehr alles selber machen, man muss Partnerschaften eingehen. Unsere Medizintechnik beispielsweise entsteht oft in Zusammenarbeit mit den Anwendern, den Ärzten. Das ist auch eine Form von Partnerschaft. Meine Vorstellung von Zeiss war immer die eines vernetzten Unternehmens. Im „digitalen
Leben“haben wir das alle akzeptiert. In der Unternehmenskultur – intern wie extern – noch nicht ganz.
Stand das Projekt jemals auf der Kippe? Es hat ja deutlich länger gedauert als geplant …
Ja, diese Phase hat es gegeben. Ich habe allerdings nie daran gezweifelt, dass wir das hinbekommen. Als Physiker kann man sehr gut einschätzen, ob es sich um ein grundsätzliches, nicht lösbares Problem handelt, oder ob es nur um ein Umsetzungsproblem geht, das sich mit dem Einsatz entsprechender Ressourcen und einer gut strukturierten Projektarbeit lösen lässt.
Da hat es sich dann aber schon ausgezahlt, dass Zeiss einen Physiker als CEO hat …
Die Sparte Halbleitertechnik bei Zeiss wurde immer und wird auch jetzt wieder von Physikern geführt. Es gibt einfach bestimmte Bereiche in Technologieunternehmen, in denen ein Naturwissenschaftler als Chef hilfreich ist. Da will ich auch niemandem wehtun, der die Ausbildung nicht hat. Aber für bestimmte Bereiche ist es wirklich ein Vorteil.
Von April an folgt Ihnen Karl Lamprecht, der bisherige Chef der Halbleitertechnik, als CEO nach. Ist das ein Zeichen für die Bedeutung dieser Sparte für Zeiss?
Nein, damit ist kein besonderes Signal für oder gegen eine Sparte verbunden. Als CEO muss man sehr schnell lernen, für das gesamte Unternehmen zu denken. Das war bei mir so und das wird bei Karl Lamprecht auch so sein.
Sie haben von einer konsequenten Investitionspolitik in den vergangenen Jahren gesprochen. Wie geht es in Oberkochen weiter?
Das entscheidet mein Nachfolger mit dem Vorstandsteam. Aber wir haben für den Standort ja schon intern eine Planung bis ins Jahr 2022 abgegeben – auch mit zusätzlichen Investitionen. Das eine oder andere darin wird sicherlich durch die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Weltwirtschaft nochmals neu bewertet werden müssen.
Kommen wir noch einmal zum Anfang unseres Gesprächs zurück. Sie sagten, Sie wollen die Hoheit über Ihren Kalender zurück. Wie werden Sie ab April Ihre Zeit nutzen?
Ich möchte nicht zu viel verraten, das habe ich auch meiner Frau versprochen. So viel kann ich aber sagen: Etwas mehr Zeit für meine Leidenschaft, die Astronomie, wird es geben. Ich werde also sicherlich wieder öfters nachts den Himmel beobachten. Und dann freue ich mich natürlich auf die Tätigkeit in Karlsruhe. Auch ein Buchprojekt habe ich bereits im Kopf. Sie müssen sich also wirklich keine Sorgen machen, dass mir langweilig wird.
Was begeistert Sie am Firmament denn besonders?
Die Kombination aus Veränderung und Konstanz. Der Laie blickt durchs Teleskop und meint, immer dasselbe zu sehen. Doch das stimmt nicht. Der ein oder andere Stern existiert im Moment der Betrachtung vielleicht schon gar nicht mehr. Man entwickelt ein sehr spezielles Gefühl für Raum und Zeit.
Apropos Zeit: Wann werden wir Sie an der Spitze des Aufsichtsrates von Zeiss wiedersehen?
Für mich und meine Familie ist es gut, auch mal Abstand zum Unternehmen zu gewinnen. Das gilt sicher auch für die Mannschaft hier, das Vorstandsteam und Karl Lamprecht, meinen Nachfolger – dem ich alles Gute wünsche. Alles andere wird sich ergeben.
Was Michael Kaschke über sein Geheimnis als Manager und seine ostdeutsche Herkunft sagt, steht unter www.schwäbische.de/zeiss