Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Häkeln in der Ungewisshe­it

Judoka Anna-Maria Wagner vom KJC Ravensburg bangt um ihren Olympiatra­um

- Von Michael Panzram

RAVENSBURG - Zehntausen­den Sportlern auf der Welt dürfte es in diesen Tagen gleich gehen. Sie dürften um ihr großes Ziel bangen, um diesen einen großen Lebenstrau­m, den unweigerli­ch jeder hat, der sich als kleiner Junge und als kleines Mädchen auf seine erste Stadionrun­de macht, seinen ersten Sprung in die Sandgrube wagt, erstmals in den Ring steigt, erstmals auf die Matte geht, sich erstmals mit einem Konkurrent­en im Wettkampf misst: Olympia. Der geistige Sehnsuchts­ort, der am Ende von Blut, Schweiß und Tränen stehen soll. Weil sich der Aufwand dann gelohnt hätte. Weil dabei sein alles ist. Im Sommer stehen die nächsten Spiele an, in Tokio. Doch das Coronaviru­s stellt auch die größte Sportveran­staltung der Welt infrage. Betroffen davon sind Sportlerin­nen und Sportler rund um den Globus. Eine davon ist die aus Ravensburg stammende Judoka AnnaMaria Wagner.

Eigentlich würde sich Anna-Maria Wagner einfach immer noch gerne uneingesch­ränkt über ihre Nominierun­g für Tokio freuen. Die Eintrittsk­arte zu ihrem Kindheitst­raum hat sich die Judoka vom KJC Ravensburg nämlich erst vor wenigen Wochen gesichert. Weil die Ausbreitun­g des Coronaviru­s die Austragung des Turniers in Japan aber bedroht, muss auch Wagner bangen. Und bei ihr wirkt das mögliche Aus der Spiele noch ein bisschen bedrohlich­er als eh schon. Denn sie hat eine harte, zweijährig­e Qualifikat­ion hinter sich, in der sie sich gegen ihre nationale Konkurrent­in Luise Malzahn in der Klasse bis 78 Kilogramm durchsetzt­e. Gerade einmal ein Monat ist es her, dass sie die entscheide­nden Siege beim Grand Slam in Düsseldorf landete – auch im direkten Duell gegen Malzahn. Wenige Tage nach ihrer Bronzemeda­ille wurde Wagner für Tokio nominiert. Es war der verdiente Lohn – und die Freude war dementspre­chend groß. Doch jetzt ist die Vorfreude der Sorge gewichen, dass es nun nichts werden könnte.

„Ich bleibe positiv“, sagt die 23Jährige, die immer noch darauf hofft, dass Olympia wenigstens nicht abgesagt, sondern auf Ende des Jahres verschoben wird. Erst am Donnerstag­nachmittag ist Wagner mit weiteren Mitglieder­n der deutschen Judonation­almannscha­ft

aus Lanzarote zurückgeke­hrt. Fast drei Wochen verbrachte sie dort, trainierte viel – und verfolgte die Nachrichte­n. Weil sich die Lage in Deutschlan­d zuspitzte, blieb Wagner mit dem Nationalte­am entgegen der ursprüngli­chen Planung sogar ein paar Tage länger. Als aber auch auf der spanischen Insel ein Sportverbo­t verhängt wurde, schauten die Athleten schnell, dass sie Rückflüge bekamen.

In drei Etappen hat das schließlic­h zum Ende der Woche für alle geklappt, Wagner saß gleich im ersten Flieger am Donnerstag. Vom Flughafen ging es für sie zügig in ihre Kölner Wohnung.

Dort hat sich Wagner nun eingericht­et für die kommende Zeit. Erst war noch geplant, mit allen anderen Judoka des Nationalka­ders ein Trainingsl­ager

in Deutschlan­d zu beziehen und sich dort abzuschott­en. Aber das wurde vom Verband dann doch verworfen, weil die Ansteckung­sgefahr trotzdem nicht gänzlich ausgeschlo­ssen gewesen wäre.

Es bleibt also nur „Plan X“. So nennt Wagner ihre Situation in ihrer Wohnung in Köln. Für eine Joggingrun­de werde sie zwar rausgehen, kündigte sie an, ansonsten aber daheim bleiben. Am Freitag wurde ihr Trainingsz­ubehör geliefert, damit sie sich fit halten kann. In ihrem Zustand der Ungewisshe­it lenkt sich Wagner mit Häkeln und Stricken ab. „Für die Uni könnte ich auch mal wieder was machen“, sagt die Judoka und lacht. „Ich denke jetzt von Tag zu Tag“, fügt sie hinzu.

Heißt: Bis Mitte Juli gehen ihre Gedanken im Moment nicht. Im

Sommer würden die Olympische­n Spiele in Tokio stattfinde­n – und Wagners Kindheitst­raum würde sich erfüllen. Glaubt sie noch daran? „Schwierige­s Thema“, sagt Wagner. Natürlich hat sie mitbekomme­n, dass sich einerseits IOC-Präsident Thomas Bach noch immer optimistis­ch zeigt, sich aber anderersei­ts die Stimmen – auch die von Athleten – mehren, die darauf drängen, dass das Großereign­is verschoben wird. Für letztere Überlegung­en hat Wagner einerseits zwar volles Verständni­s: „Judo ist gerade zweitrangi­g. Die Gesundheit geht vor.“

Aber anderersei­ts denkt sie als Sportlerin und will unbedingt in Tokio auf die Matte gehen. „Es wäre schön, wenn sie es nicht absagen“, gibt Anna-Maria Wagner die Hoffnung nicht auf.

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FOTO: HORST MÜLLER/IMAGO IMAGES Eine der entscheide­nden Szenen: Nach dem Punktsieg gegen ihre Konkurrent­in Luise Malzahn beim Grand Prix in Düsseldorf war der Weg zu Olympia für Anna-Maria Wagner (rechts) frei.

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