Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Häkeln in der Ungewissheit
Judoka Anna-Maria Wagner vom KJC Ravensburg bangt um ihren Olympiatraum
RAVENSBURG - Zehntausenden Sportlern auf der Welt dürfte es in diesen Tagen gleich gehen. Sie dürften um ihr großes Ziel bangen, um diesen einen großen Lebenstraum, den unweigerlich jeder hat, der sich als kleiner Junge und als kleines Mädchen auf seine erste Stadionrunde macht, seinen ersten Sprung in die Sandgrube wagt, erstmals in den Ring steigt, erstmals auf die Matte geht, sich erstmals mit einem Konkurrenten im Wettkampf misst: Olympia. Der geistige Sehnsuchtsort, der am Ende von Blut, Schweiß und Tränen stehen soll. Weil sich der Aufwand dann gelohnt hätte. Weil dabei sein alles ist. Im Sommer stehen die nächsten Spiele an, in Tokio. Doch das Coronavirus stellt auch die größte Sportveranstaltung der Welt infrage. Betroffen davon sind Sportlerinnen und Sportler rund um den Globus. Eine davon ist die aus Ravensburg stammende Judoka AnnaMaria Wagner.
Eigentlich würde sich Anna-Maria Wagner einfach immer noch gerne uneingeschränkt über ihre Nominierung für Tokio freuen. Die Eintrittskarte zu ihrem Kindheitstraum hat sich die Judoka vom KJC Ravensburg nämlich erst vor wenigen Wochen gesichert. Weil die Ausbreitung des Coronavirus die Austragung des Turniers in Japan aber bedroht, muss auch Wagner bangen. Und bei ihr wirkt das mögliche Aus der Spiele noch ein bisschen bedrohlicher als eh schon. Denn sie hat eine harte, zweijährige Qualifikation hinter sich, in der sie sich gegen ihre nationale Konkurrentin Luise Malzahn in der Klasse bis 78 Kilogramm durchsetzte. Gerade einmal ein Monat ist es her, dass sie die entscheidenden Siege beim Grand Slam in Düsseldorf landete – auch im direkten Duell gegen Malzahn. Wenige Tage nach ihrer Bronzemedaille wurde Wagner für Tokio nominiert. Es war der verdiente Lohn – und die Freude war dementsprechend groß. Doch jetzt ist die Vorfreude der Sorge gewichen, dass es nun nichts werden könnte.
„Ich bleibe positiv“, sagt die 23Jährige, die immer noch darauf hofft, dass Olympia wenigstens nicht abgesagt, sondern auf Ende des Jahres verschoben wird. Erst am Donnerstagnachmittag ist Wagner mit weiteren Mitgliedern der deutschen Judonationalmannschaft
aus Lanzarote zurückgekehrt. Fast drei Wochen verbrachte sie dort, trainierte viel – und verfolgte die Nachrichten. Weil sich die Lage in Deutschland zuspitzte, blieb Wagner mit dem Nationalteam entgegen der ursprünglichen Planung sogar ein paar Tage länger. Als aber auch auf der spanischen Insel ein Sportverbot verhängt wurde, schauten die Athleten schnell, dass sie Rückflüge bekamen.
In drei Etappen hat das schließlich zum Ende der Woche für alle geklappt, Wagner saß gleich im ersten Flieger am Donnerstag. Vom Flughafen ging es für sie zügig in ihre Kölner Wohnung.
Dort hat sich Wagner nun eingerichtet für die kommende Zeit. Erst war noch geplant, mit allen anderen Judoka des Nationalkaders ein Trainingslager
in Deutschland zu beziehen und sich dort abzuschotten. Aber das wurde vom Verband dann doch verworfen, weil die Ansteckungsgefahr trotzdem nicht gänzlich ausgeschlossen gewesen wäre.
Es bleibt also nur „Plan X“. So nennt Wagner ihre Situation in ihrer Wohnung in Köln. Für eine Joggingrunde werde sie zwar rausgehen, kündigte sie an, ansonsten aber daheim bleiben. Am Freitag wurde ihr Trainingszubehör geliefert, damit sie sich fit halten kann. In ihrem Zustand der Ungewissheit lenkt sich Wagner mit Häkeln und Stricken ab. „Für die Uni könnte ich auch mal wieder was machen“, sagt die Judoka und lacht. „Ich denke jetzt von Tag zu Tag“, fügt sie hinzu.
Heißt: Bis Mitte Juli gehen ihre Gedanken im Moment nicht. Im
Sommer würden die Olympischen Spiele in Tokio stattfinden – und Wagners Kindheitstraum würde sich erfüllen. Glaubt sie noch daran? „Schwieriges Thema“, sagt Wagner. Natürlich hat sie mitbekommen, dass sich einerseits IOC-Präsident Thomas Bach noch immer optimistisch zeigt, sich aber andererseits die Stimmen – auch die von Athleten – mehren, die darauf drängen, dass das Großereignis verschoben wird. Für letztere Überlegungen hat Wagner einerseits zwar volles Verständnis: „Judo ist gerade zweitrangig. Die Gesundheit geht vor.“
Aber andererseits denkt sie als Sportlerin und will unbedingt in Tokio auf die Matte gehen. „Es wäre schön, wenn sie es nicht absagen“, gibt Anna-Maria Wagner die Hoffnung nicht auf.