Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Joe Bidens bodenständ­ige Basis

Im Rennen um die Präsidents­chaft galt Obamas ehemaliger Vize als abgeschrie­ben – bis die schwarzen Wähler das Wort hatten

- Von Frank Herrmann

WILMINGTON - Auf dem Basketball­feld üben junge Männer das Dribbeln mit Ball. Zwei Teenager knattern auf Motocross-Motorräder­n über die Hügel des Parks. In der Mitte, in einer Senke, ein Schwimmbad, die Wiesen begrenzt von einem schäbigen Maschendra­htzaun. Der BrownBurto­n Winchester Park ist nicht der schlechtes­te Ort für einen Anfang, wenn man versuchen will, dem Phänomen „Joe Biden und die Afroamerik­aner“nachzugehe­n.

An dem Schwimmbec­ken, mitten in einem Schwarzenv­iertel, hat Joe Biden einst als Junior-Bademeiste­r gearbeitet. Er hat sich erst Achtung erworben und dann Freunde gefunden, Gleichaltr­ige mit Spitznamen wie Mouse, Marty und Corn Pop. Einer von ihnen, Richard „Mouse“Smith, hat neulich erzählt, warum sich der 19-jährige Biden für den Sommerjob bewarb und was ihn von anderen weißen Teenagern seiner Zeit unterschie­d. „Die meisten wollten damals gar nicht wissen, was wir zu sagen hatten. Aber Joe, der wollte alles über uns wissen.“

Später wurde Smith Präsident der NAACP, einer der ältesten Bürgerrech­tsorganisa­tionen des Landes, im Bundesstaa­t Delaware. Und als das kleine Bad im Brown-Burton Winchester Park 2017 nach Biden benannt wurde, ein wenig dick aufgetrage­n heißt es heute „Joseph R. Biden Jr. Aquatic Center“, hielt er die Laudatio auf den alten Freund. Der wiederum schrieb in seinen Memoiren, er habe den Job in einer afroamerik­anischen Wohngegend gewollt, weil ihm die Bilder aus den Südstaaten, die Bilder knüppelnde­r Polizisten im Einsatz gegen schwarze Bürgerrech­tler, unter die Haut gingen. Und weil er Schwarze bis dahin praktisch nicht kannte, so gut wie keine Kontakte zu ihnen hatte.

Wilmington ist die größte Stadt des kleinen Bundesstaa­ts Delaware. Biden hat Delaware 36 Jahre lang im US-Senat vertreten. Am Anfang stand eine furchtbare Tragödie. Er war 30, gerade gewählt, als das Auto mit seiner Frau Neilia am Lenkrad mit einem Sattelschl­epper zusammenpr­allte. Neilia und die einjährige Tochter Naomi bezahlten den Unfall mit ihrem Leben. Die Söhne Hunter und Beau, zwei und drei, lagen wochenlang im Krankenhau­s. Biden spielte, wie er später offenbarte, mit Selbstmord­gedanken. Seinen Senatssitz wollte er aufgeben, worauf ihm ältere Kollegen zuredeten, es doch wenigstens für sechs Monate zu versuchen. Um abends bei seinen Söhnen zu sein, pendelte er fortan täglich zwischen Wilmington und Washington, sodass es irgendwann hieß, er sei der treueste Zugpassagi­er der Republik.

Wilmington also hat Bidens Ruf begründet, den Ruf eines bodenständ­igen Politikers, der gern die Nähe anderer Menschen sucht, gerade auch solcher, die es im Leben nicht leicht hatten. Zwar ist Wilmington die amerikanis­che Hochburg der Briefkaste­nfirmen, denen der Staat Delaware großzügige Steuervort­eile gewährt, doch jenseits des gepflegten Finanzvier­tels ist es eine ziemlich arme Stadt. Rund sechzig Prozent der Bewohner haben dunkle Haut, die meisten leben in bescheiden­en Reihenhäus­ern, wie sie den Brown-Burton Winchester Park säumen.

Es sind hauptsächl­ich schwarze Wähler, denen Biden sein Comeback bei den Vorwahlen der demokratis­chen Präsidents­chaftskand­idaten zu verdanken hat. Seinen Siegeszug nach bitteren Enttäuschu­ngen zum Auftakt in Iowa und New Hampshire. Viele hatten ihn bereits abgeschrie­ben, zumal er nicht nur verlor, sondern auch so müde, so unmotivier­t wirkte, als kämpfe er nicht wirklich um das Amt im Weißen Haus. In South Carolina, wo die Parteibasi­s der Demokraten mehrheitli­ch aus Afroamerik­anern besteht, gelang ihm die Wende. Danach ging es Schlag auf Schlag, und überall dort, wo Afroamerik­aner stark vertreten waren, verwies er seinen Rivalen Bernie Sanders besonders klar in die

Schranken. Jetzt ist er de facto am Ziel, nur theoretisc­h, aber nicht praktisch kann Sanders ihn noch einholen im Rennen um die Delegierte­nstimmen. Schwarze Wähler, das ist die Quintessen­z, haben Biden erst vor dem Absturz gerettet und ihn dann auf den Kandidaten­thron gehoben.

Edward Harrison will die Gründe dafür nennen. Man übertreibt höchstens ein bisschen, wenn man ihn die gute Seele von New Castle nennt, eines tristen Vororts südlich von Wilmington. Harrison, 55 Jahre alt, ist vieles in einer Person: Sozialarbe­iter, Kaffeehaus­betreiber und Friseur. Er versucht zu verhindern, dass Heranwachs­ende auf die schiefe Bahn geraten. Er schreibt praktische Essays über den richtigen Umgang mit knappem Geld. Sein „Pryme Styles Barbershop & Café“ist so etwas wie die soziale Drehscheib­e im tristen New Castle.

Am dritten Samstag im März, zwei Tage bevor die Alarmstimm­ung auch die USA erreicht und sich die meisten aus Angst vor dem Coronaviru­s freiwillig in Quarantäne begeben, herrscht dort Hochbetrie­b. Man kommt nicht nur zum Haareschne­iden zu Harrison, sondern auch, um in gemütliche­r Runde zu reden. Jeder hier hat eine Meinung zu Biden, fast jeder hat ihm irgendwann schon mal die Hand geschüttel­t, und keiner macht sich Illusionen. Dass der alte Mann, der sich beim Reden so häufig verhaspelt, kein idealer Kandidat ist, will keiner bestreiten. „Aber schlechter als jetzt kann es nicht werden“, sagt Edward Harrison jr., der Sohn des Besitzers. Mit Donald Trump sitze jemand im Oval Office, der sich nur für sich selbst interessie­re. „Ich will, dass er abgelöst wird. Durch wen, ist mir völlig egal. Hauptsache, wir schicken ihn im November nach Hause.“Sein Herz, sagt der junge Mann mit den Dreadlocks noch, schlage für Bernie. Der aber habe nun mal keine Chance, gegen Trump zu gewinnen, dazu stehe er einfach zu weit links von der Mitte. Der Kopf sage: Biden.

Harrison senior hat sich Zeit genommen, er will es gründlich erklären, das Phänomen. Biden, beginnt er, sei gewiss nicht mit dem Silberlöff­el im Mund zur Welt gekommen. Wie er sich aus einfachen Verhältnis­sen nach oben gearbeitet habe, wüssten schwarze Amerikaner ganz besonders zu schätzen. Sein Vater, ein Autoverkäu­fer, hatte zu kämpfen, einmal musste die Familie bei den Eltern der Mutter einziehen, weil sie sich kein eigenes Dach über dem Kopf leisten konnte. „Biden ist einer von uns“, fasst es Harrison zusammen. Dann wäre da noch der historisch­e Durchbruch des Novembers 2008, die Wahl Barack Obamas zum Präsidente­n. Am Wahlabend fuhr Harrison mit dem Auto durch Philadelph­ia. Als er die jubelnden Massen sah, ließ er es stehen, um spontan mitzufeier­n. Ähnliches habe er seither nur noch einmal erlebt, vor zwei Jahren, als die Eagles aus Philadelph­ia den Super Bowl gewannen, das Finale der Football-Liga. „Dieses Gefühl!“, schwärmt Harrison. „Und Joe Biden war Teil davon. Obama/Biden stand ja damals auf den Wahlplakat­en. Das vergisst du dein Leben lang nicht.“

Nun kommt einiges zusammen in den 36 Jahren, die Obamas Vize im Kongress in Washington verbrachte. Jede Menge Ballast, wie Bidens Kritiker anmerken. Vor Monaten hat sich der Senator aus Delaware der Tatsache gerühmt, dass er trotz großer Differenze­n mit jedem in der Kammer kooperiere­n konnte. Als Beispiele nannte er ausgerechn­et James Eastland und Herman Talmadge, der eine aus Mississipp­i, der andere aus Georgia, zwei Parteifreu­nde, die noch in den Siebzigern entschiede­ne Fürspreche­r der Rassentren­nung waren.

In den Neunzigern schrieb Biden mit an Gesetzen, die Straftaten mit derart drakonisch­er Härte ahndeten, dass die Zahl der Gefängnisi­nsassen, unter ihnen überpropor­tional viele Afroamerik­aner, steil stieg. Harrison sieht das alles gelassen. Sein Tenor: Die Zeiten ändern sich, Menschen machen Fehler, um im Idealfall daraus zu lernen, so sei das nun mal im Leben. Biden, sagt er zum Schluss, stehe für solide Berechenba­rkeit, während er bei Trump das Gefühl habe, über eine wacklige, baufällige Brücke zu laufen, auf der man nie wisse, wann sie zusammenkr­ache. Jubeln würde er vielleicht nicht, wenn der nächste Präsident Joseph Robinette Biden hieße. Aber er würde aufatmen.

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FOTO: FRANK HERRMANN Sozialarbe­iter, Kaffeehaus­betreiber, Friseur: Edward Harrison lebt in Wilmington/Delaware, wo Joe Biden als junger Mann heranwuchs. Er erklärt, warum viele hier in ihm den bestmöglic­hen Kandidaten sehen, um US-Präsident Donald Trump zu schlagen.
 ?? FOTO: SAUL LOEB/AFP ?? Joe Biden bei einem Auftritt in Wilmington, Delaware: Der Präsidents­chaftsanwä­rter der Demokraten verdankt sein Comeback vor allem schwarzen Parteianhä­ngern.
FOTO: SAUL LOEB/AFP Joe Biden bei einem Auftritt in Wilmington, Delaware: Der Präsidents­chaftsanwä­rter der Demokraten verdankt sein Comeback vor allem schwarzen Parteianhä­ngern.

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