Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Ein Dorf leidet
In Oberammergau sind wegen Corona die Passionsspiele 2020 abgesagt worden – Für den Ort ist dies ein Alptraum
Eine großflächig plakatierte Zigarettenwerbung an einem ansonsten leeren Parkplatz gleich beim Oberammergauer Festspielhaus: „... und die Welt steht still“, prangt in großen Lettern darauf. Eigentlich soll der Satz nur das angebliche Gefühl beim vermeintlich genussvollen Rauchen beschreiben. In diesen Tagen hat er aber eine unbeabsichtigte Allgemeingültigkeit: Schließlich scheint die Welt angesichts des Coronavirus’ tatsächlich stillzustehen – auch in der oberbayerischen 5500-Seelen-Gemeinde. Für sie hat es eine Art größten anzunehmenden Unfall gegeben, einen GAU: das Verschieben der weltberühmten Passionsspiele über das Leiden und Sterben Jesu um zwei Jahre.
Um zu verstehen, was dies für Oberammergau bedeutet, lauscht man mal am besten den Worten von Bürgermeister Arno Nunn in seinem mit Lüftlmalerei verzierten Gemeindeamt. „Oberammergau ist Passion, die Passion ist Oberammergau“, versucht sich der ehemalige Polizist an einer Erklärung. Aktuell war fast jeder zweite Einwohner direkt mit den alle zehn Jahren stattfindenden Spielen verknüpft: als Darsteller, als Orchestermitglied, als Bühnenbildner, als Handwerker, als Helfer.
Der Rest der Oberammergauer dürfte wenigstens in irgendeiner Form von der Passion profitieren. Mit rund einer halben Million Gästen war dieses Mal während der Spielwochen vom 16. Mai bis 4. Oktober gerechnet worden. Dies hätte einen warmen Regen von geschätzten 30 Millionen Euro in die Kassen der Hoteliers, Wirte, Schnitzereiverkäufer oder Souvenirhändler gespült – und den Kämmerer der Gemeinde glücklich gemacht.
Das mit seinen vielen kunstvoll bemalten Häusern so beschaulich wirkende Oberammergau sitzt auf zwölf Millionen Euro Schulden. Sehr viel für ein Dorf, aber üblicherweise kein sonderlicher Aufreger vor Ort. Der Grund ist simpel: „Prinzipiell lebt die Gemeinde zehn Jahre von den Passionseinnahmen. Dann sind neue Spiele. Sie bringen das Geld für die nächsten zehn Jahre“, beschreibt Bürgermeister Nunn das Wirtschaften. Seine Idee sei dieses Haushaltssystem aber nicht. Er habe es zu seinem Erstaunen bereits vorgefunden, als ihn die Bürger vor zwölf Jahren in sein Amt gewählt hätten.
Offenbar ein System mit langer Tradition – und damit passend zur Passion. Sie geht auf das Jahr 1633 zurück. Der 30-jährige Krieg tobte. Söldner bewegten sich kreuz und quer durch Europa. Sie schleppten die Pest ein, den damals gefürchteten Schwarzen Tod. Die durch ein Bakterium ausgelöste Infektionskrankheit erreichte auch Oberammergau.
Laut der Kirchenbücher starben innerhalb weniger Wochen 84 Menschen. Der christlich-katholische Glauben war jedoch noch groß. Also legte der Dorfvorstand ein Gelübde ab: Würden die himmlischen Mächte helfen, verpflichte sich Oberammergau, alle zehn Jahre als Dank die Passion nachzuspielen. Die Legende will, dass nach dem Schwur niemand mehr im Ort starb.
An die Seuchenparallele zu den gegenwärtigen Ereignissen erinnern viele. Der gestandene Wirt des nun auch stillliegenden Gasthauses „Zur Tini“meint bei einer Begegnung am Gartenzaun mit schwarzem Humor: „Vielleicht brauchen wir wieder ein Gelübde?“Wobei er ernsthaft nicht an eine teuflische Verschwörung denkt, sondern der Globalisierung die Schuld gibt. „Klar, der weltweite Austausch. Das geht alles viel zu schnell“, meint auch Rentner Joe Müller, der in einer fast ausgestorbenen Gasse unterwegs ist.
Übrigens ist die Pest nicht der einzige Pandemie-Bezug zu der kleinen Gemeinde. Davon spricht später bei einem Treffen im Festspielhaus der abseits von Amtspersonen und Pfarrer eigentlich wichtigste Mann Oberammergaus, Christian Stückl, Spielleiter seit 33 Jahren und örtliches Urgestein: „Auch 1920 wurde die Passion um zwei Jahre verschoben.“Zum einen fehlten durch die Gefallenen des eben erst zu Ende gegangenen Ersten Weltkriegs Darsteller. Schwerer wog aber offenbar, dass die Spanische Grippe grassierte und weltweit Millionen von Menschen tötete.
Ein Blick in die Chronik zeigt, dass es bereits 1870 eine kriegsbedingte Verschiebung gegeben hat. Dazu kommen zwei Totalausfälle: ein Generalverbot 1770 und eine Absage 1940 wegen des Zweiten Weltkriegs. Die jetzigen Spiele wären die 42sten in der langen Geschichte der Oberammergauer Passion gewesen – zudem wohl die aufwendigsten. Stückl, nebenbei noch Intendant des Münchner Volkstheaters, hat rund 15 Millionen Euro Gemeindegelder ausgegeben. Fast alle Gewänder wurden erneuert. „Wir stehen besser da als ein entsprechender Hollywoodfilm“, unterstreicht der Spielleiter seinen Anspruch. Des Weiteren hat sich einiges an den Kulissen geändert.
„Alles war weitgehend vorbereitet und geprobt“, betont Stückl. Dass nun ausgerechnet er einen Ausfall akzeptieren muss, wäre ihm bis vor ein paar Wochen nicht in den Sinn gekommen. Im Herbst war der Spielleiter mit seinen 40 Hauptdarstellern noch ins Heilige Land gereist. Biblische Atmosphäre sollte geschnuppert werden. Das neue Coronavirus kannte noch keiner. „Am 8. März hat es noch eine Probe mit 400 Leuten gegeben“, berichtet Stückl, während er sich die nächste Zigarette anzündet.
Der hyperaktiv wirkende Mann ist Kettenraucher. Mag sein, dass während der Krise sein Griff zur Kippe noch schneller ist. Jedenfalls fährt er zwischen den einzelnen Zügen mit der Erzählung fort: „Mir war dann bei so vielen Menschen auf einem Fleck sehr unwohl.“Die Hauptdarsteller gingen zu Miniproben über. Schließlich zog das zuständige Landratsamt Garmisch-Partenkirchen vergangene Woche die Notbremse: aktuelle Absage wegen Corona.
Auf einer abendlichen Sitzung beschloss der Gemeinderat, die Passion in zwei Jahren nachzuholen. Früher ginge es aus organisatorischen Gründen nicht. Jetzt müssten unter anderem erst einmal 450 000 Kartenvorbestellungen rückabgewickelt werden. Danach sei es nötig, den Ticket-Vertrieb neu anlaufen zu lassen, heißt es. Stückl zeigt sich froh, dass ein Strich gezogen wurde: „Wir hätten die Spiele nicht verantworten können.“Klar habe es speziell bei einigen Hauptdarstellern Tränen gegeben. Für ihn selber bleibt im Moment so etwas wie Melancholie nach langen Monaten der Vorbereitung. Sie zeichnet sich in seiner bärtigen Miene ab, als er durchs Festspielhaus führt. Hier und da arbeiten noch Leute an Requisiten für die Bühne. Gewänder werden vollends fertiggestellt. Ein Aufräumen hat eingesetzt.
Schließlich steht der Spielleiter nach dem Durchschreiten diverser Gänge und Räume auf der Festspielbühne. Nach vorne hin sind 4000 leere Sitze. Hinter ihm stehen Kulissen, antike Säulen, die mit einer waagerechten Querung verbunden sind. Letzteres ist eine Neuerung, technisch wegen einer Lautsprecheranlage nötig, wie Stückl sagt. Vor wenigen Monaten hatte die waagerechte Säulenverbindung im Dorf hitzige Debatten hervorgerufen. Zuvor waren dort Bögen gewesen. Traditionalisten hatten an ihnen festhalten wollen. Alles vorbei, alles Geschichte.
„Wir frieren die Vorbereitungen jetzt ein und fangen rechtzeitig vor der Saison 2022 mit den Proben wieder an“, meint Stückl. Damit ist für den Moment auch der berüchtigte Haarerlass gefallen. Zur Erklärung: Abgesehen von den Römerdarstellern muss sich jeder, egal ob Mann oder Frau, ein gutes Jahr vor der Premiere die Haare wachsen lassen, die Männer zudem noch ihre Bärte. Ungeschickterweise fällt der Gang zum Frisör aber aus. Beide örtlichen Salons haben wegen Corona geschlossen.
Vielleicht hat aber auch mancher an seiner Haarpracht gefallen gefunden? Etwa Ludwig Huber, ein stämmiger junger Mann. Er sitzt entspannt beim Festspielhaus in der Sonne. Als gelernter Bildhauer hat er am Bühnenbild mitgearbeitet. Während der Spiele wäre Huber als Tempelwache zum Einsatz gekommen. Wie so viele Oberammergauer hat er extra Urlaub für die Passion genommen. „Ach, was soll es? In zwei Jahren geht es weiter“, lauten seine Worte, während seine rechte Hand durch den langen Bart streift. „Die Haare“, flachst er, „bleiben dran – schon aus Protest gegen Corona.“
Einige sehr einsame Schritte vom Festspielhaus ins Ortszentrum hinein trifft man weniger entspannte Menschen. Zuerst ist es Elisabeth Korb, eine betagte Rentnerin. Sie ist hier in einer Klinik zur Reha. „Hoffentlich geht es gut, und das Virus verschont mich“, flüstert sie. Ingeborg Echtler, Inhaberin des Hotels Wulf, sagt: „Ohne Gäste kein Einkommen. Vielleicht kann ich die Zeit bis zum Sommer irgendwie überbrücken.“
Etwas weiter schaut der Holzbildhauer Johannes Heinzeller aus seinem geschlossenen Laden. Er sagt: „Die Krise ist für den Einzelhandel und die Gastronomie der schlimmste Fall. Wir haben für die vielen Gäste Ware geordert. Darauf bleiben wir jetzt sitzen.“Dann schimpft Heinzeller noch auf Spielleiter Stückl: „Warum hat der 15 Millionen Euro ausgeben müssen. Wäre die ganze Ausstattung vom letzten Mal, also 2010, genommen worden, hätte die Gemeinde jetzt nicht so ein großes Schuldenproblem.“
Wobei Oberammergau in diesem Zusammenhang Glück haben könnte. Erstmals hatte es sich gegen einen Ausfall der Passion versichert. Unklar ist jedoch laut Bürgermeister Nunn, wie viel der Ausgaben tatsächlich ersetzt werden – oder ob die Gemeinde vielleicht doch an ihrer Infrastruktur sparen muss, beispielsweise an der bei den Bürgern beliebten Freibadanlage. Damit darf sich aber sein Nachfolger herumschlagen. Weil er bei den Kommunalwahlen Mitte März nicht mehr angetreten ist, scheidet Nunn Anfang Mai aus dem Amt.
Auf dem Weg zurück zum Parkplatz bleibt der Blick nochmals an der Zigarettenwerbung hängen: „Und die Welt steht still.“Klein steht darunter: „Rauchen ist tödlich.“Das Virus auch.
„Alles war weitgehend vorbereitet und geprobt.“
Christian Stückl, Spielleiter