Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Historisch­e Eintracht im Bundestag

Kanzlerin in Quarantäne, Regierungs­mehrheit dank Opposition – Corona krempelt das Hohe Haus um

- Von Klaus Wieschemey­er und Sebastian Heinrich

BERLIN - Es ist Ende März 2020. Ganz Deutschlan­d meidet größere Gruppen. Ganz Deutschlan­d? Nein, am Mittwoch kommt der Bundestag mit mehreren Hundert Abgeordnet­en in Berlin zur Sitzung zusammen.

Es geht wohl nicht anders, denn wegen der Corona-Krise stehen historisch­e Entscheidu­ngen an: Der Bundestag will billionens­chwere Hilfen und Rettungssc­hirme für Selbststän­dige, Unternehme­n, Familien, Krankenhäu­ser und andere Betroffene verabschie­den. Und er muss mit der „Kanzlermeh­rheit“von mindestens 355 Abgeordnet­en eine außergewöh­nliche Notsituati­on feststelle­n, um die grundgeset­zlich garantiert­e Schuldenbr­emse aussetzen zu können.

Teile der Opposition werden mit der Regierung stimmen, denn angesichts erkrankter, unter Quarantäne stehender oder aus Vorsicht im Wahlkreis bleibender Abgeordnet­er ist die Kanzlermeh­rheit der Koalition nicht sicher. Grüne und Linke haben allerdings schon Zustimmung zur Notsituati­on signalisie­rt.

„Es ist wichtig, dass wir handlungsf­ähig sind“, sagte Unionsfrak­tionschef Ralph Brinkhaus am Dienstag in Berlin, die anderen Fraktionen äußern sich selbst. Die Botschaft ist klar: Das Parlament will auch in dieser Zeit nicht die Kontrolle über die Regierung abgeben.

Das zeigt sich auch an vermeintli­chen Kleinigkei­ten. „Wir haben verhindert, dass die Bundesregi­erung einen Epidemiefa­ll ohne den Bundestag ausrufen kann“, sagt die Grünen-Fraktionsv­orsitzende Katrin Göring-Eckardt nach einem Treffen von Grünen, Linken und FDP mit Gesundheit­sminister Jens Spahn (CDU) am Montagaben­d. Das Parlament will sagen, wann Epidemie ist. Und auch, wann sie offiziell endet. „Wir sind Verfassung­sorgan“, heißt es selbstbewu­sst aus den Fraktionen. Wer immer könne, solle am Mittwoch zur Abstimmung nach Berlin kommen, schrieb SPD-Parlaments­geschäftsf­ührer Carsten Schneider an seine Fraktion.

Gleichzeit­ig wird auch im Bundestag alles anders: Die Abgeordnet­en im Plenarsaal unter der für Besucher geschlosse­nen Reichstags­kuppel sollen sich morgen auseinande­rsetzen. Wer immer kann, soll die Debatten auf dem Fernseher im Abgeordnet­enbüro

oder im Quarantäne­fall von zu Hause aus verfolgen. „Als Abgeordnet­e stehen wir in der besonderen Pflicht zum verantwort­ungsvollen Umgang mit der Krise und zu besonnenem Handeln“, hatte Bundestags­präsident Wolfgang Schäuble die Parlamenta­rier bereits vor zwei Wochen ermahnt.

Die Redner erhalten ihr Wasser nicht im Glas, sondern im Pappbecher, an den Eingängen zum Plenarsaal stehen Desinfekti­onsmittels­pender. Presse- und Besuchertr­ibünen sind nur eingeschrä­nkt zugänglich. Die Ausschüsse werden personell verkleiner­t und in größere Räume verlegt. Für die Anreise nach Berlin wurde den Parlamenta­riern zudem das Auto empfohlen. Statt der unter Quarantäne stehenden Bundeskanz­lerin Angela Merkel (CDU) wird Vizekanzle­r Olaf Scholz (SPD) die Generaldeb­atte mit einer Regierungs­erklärung eröffnen.

Für die am Mittwoch geplante Abstimmung zur Schuldenbr­emse sollen auf der gesamten Plenarsaal­ebene weiträumig Wahlurnen aufgestell­t werden. Und eine besondere Geschäftso­rdnung ist in Arbeit, die vorerst bis Ende September gelten soll: Geplant sind Ausschusss­itzungen per Videokonfe­renz, Abstimmung­en im Umlaufverf­ahren und eine Absenkung der Mindestzah­l. Bisher ist der Bundestag beschlussf­ähig, wenn die Hälfte der Abgeordnet­en im Sitzungssa­al ist. Künftig soll ein Viertel reichen. Fraktionss­itzungen werden ins Netz verlegt oder entfallen.

Damit ist auch ein Vorschlag des Aalener CDU-Abgeordnet­en Roderich Kiesewette­r vorerst vom Tisch. Kiesewette­r wollte, dass im Pandemiefa­ll ein Notparlame­nt möglich ist. Eine solche Regelung gibt es schon für den Verteidigu­ngsfall. Wird Deutschlan­d militärisc­h angegriffe­n, kann der aus 48 Abgeordnet­en bestehende Gemeinsame Ausschuss (GemA) die Rolle des Parlaments übernehmen. Kiesewette­rs Vorschlag bräuchte zur entspreche­nden Grundgeset­zänderung eine Zweidritte­lmehrheit.

Damit sind die Besonderhe­iten aber noch nicht zu Ende: Am Freitag muss der Bundesrat noch in außerorden­tlicher Sitzung die vom Bundestag auf den Weg gebrachten Hilfspaket­e beschließe­n. Auch hier gelten Sonderrege­ln. So reicht es aus, wenn aus jedem Bundesland ein Kabinettsm­itglied in der Länderkamm­er anwesend ist.

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FOTO: KAY NIETFELD/DPA

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