Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Mangelware Beatmungsg­erät

Die Hersteller von Medizintec­hnik kommen mit der Produktion nicht mehr nach

- Von Andreas Knoch

RAVENSBURG - Sie sind in der anrollende­n Coronaviru­s-Pandemie dringendst gesucht: Beatmungsg­eräte. Zwei kanadische Krankenhäu­ser gehen nun einen ungewöhnli­chen Weg. Sie haben einen Wettbewerb ausgeschri­eben. Gebaut werden soll ein simples, einfach nutzbares Beatmungsg­erät für Covid-19-Patienten. Und es muss schnell gehen. Einsendesc­hluss ist bereits der 31. März. Die besten drei Vorschläge sollen am 15. April veröffentl­icht und weltweit zum gebührenfr­eien Nachbau zur Verfügung gestellt werden. Das nach Ansicht der mit medizinisc­hem Fachperson­al besetzten Jury vielverspr­echendste Projekt wird mit umgerechne­t 130 000 Euro belohnt.

Aufgrund der Corona-Krise herrscht derzeit ein eklatanter Mangel an Beatmungsm­aschinen und Ersatzteil­en. Die Zahl beatmungsb­edürftiger Patienten steigt nicht nur exponentie­ll an, sie müssen oft auch deutlich länger als andere Intensivpa­tienten beatmet werden. In Norditalie­n, dem Epizentrum der Tragödie, sind Ärzte wegen knapper Ressourcen bereits gezwungen, über Leben und Tod zu entscheide­n, wenn sie einen Patienten an ein Beatmungsg­erät anschließe­n und damit andere Menschen ersticken lassen.

In Deutschlan­d hat Bundesgesu­ndheitsmin­ister Jens Spahn (CDU) verfügt, die Anzahl der Intensivbe­tten, die als Beatmungsp­lätze genutzt werden können, von derzeit 28 000 zu verdoppeln. Die Bundesregi­erung hat sich dabei direkt mit Aufträgen an die Hersteller von Beatmungsg­eräten gewandt. Das zeigt den Ernst der Lage. Der Medizinund Sicherheit­stechnikan­bieter Drägerwerk aus Lübeck hat eine Order über 10 000 Beatmungsg­eräte aus Berlin erhalten – die mit einem geschätzte­n Volumen von 200 Millionen Euro größte Bestellung in der Geschichte des Konzerns. Und der Wettbewerb­er Löwenstein Medical aus dem rheinland-pfälzische­m Bad Ems soll „im Laufe der kommenden drei Monate“6500 Beatmungsg­eräte verschiede­ner Klassen liefern.

Die beiden Hersteller arbeiten – wie die Konzerne GE, Medtronic und Becton-Dickinson in den USA, Philips in den Niederland­en, Getinge in Schweden und Hamilton in der Schweiz auch – seit Wochen auf Hochtouren. Löwenstein hat bereits im Februar die Fertigung hochgefahr­en weil die Nachfrage aus China plötzlich explodiert­e. „Wir konzentrie­ren uns jetzt voll und ganz auf unseren Versorgung­sauftrag“, ließ die

Geschäftsf­ührung des mittelstän­dischen Familienun­ternehmens in einer Mitteilung wissen und bittet deshalb darum, von „weiteren Presseanfr­agen zur aktuellen Situation“abzusehen.

Und auch Drägerwerk hat seine Produktion­skapazität­en wegen der hohen Nachfrage erheblich ausgeweite­t. Vorstandsc­hef Stefan Dräger zufolge produziere man aktuell rund doppelt so viele Beatmungsg­eräte wie vorher. Um die Order der Bundesregi­erung abzuarbeit­en, muss der Konzern seine Kapazitäte­n am Standort in Lübeck im Rekordtemp­o weiter vergrößern. Dabei geht es nicht nur um die Herstellun­g der Geräte, sondern auch um Testräume, von denen es bisher zu wenig gibt.

Zudem sind Komponente­nzuliefere­r derzeit schwer zu finden, und Lieferunge­n gehen auch ins Ausland, zuletzt nach Italien. „Deshalb verfolgen wir die Lieferkett­e aktuell mit

Einsatzgru­ppen engmaschig, um ausreichen­d Nachschub zur weiteren Produktion­sausweitun­g zu bekommen“, erklärt Drägerwerk-Firmenspre­cherin Melanie Kamann.

Angebot und Nachfrage klaffen trotz aller Bemühungen der Anbieter weit auseinande­r. Schätzunge­n zufolge liegt das Marktvolum­en für Beatmungsg­eräte weltweit bei etwa vier Milliarden US-Dollar, die Preise für die Apparature­n – je nach Komplexitä­t – bei 20 000 Euro an aufwärts. „Wir nehmen derzeit jedes Beatmungsg­erät, das wir kriegen können“, schildert der Präsident der Hessischen Krankenhau­sgesellsch­aft, Christian Höftberger, stellvertr­etend die Ausnahmesi­tuation. Reserveger­äte würden in Betrieb genommen, neue angekauft, Personal verschoben und nachgeschu­lt. Das weiß auch der Drägerwerk-Chef Stefan Dräger. „Mir ist bewusst, dass all unsere Bemühungen den aktuellen Bedarf auf der

Welt nur zum Teil decken können. Aber ich kann Ihnen versichern: Wir tun was wir können.“Um den Engpass zu lindern, hat die Politik in den vergangene­n Tagen selbst branchenfr­emde Firmen um Hilfe bei der Produktion von Beatmungsg­eräten und -komponente­n gebeten. BadenWürtt­embergs Ministerpr­äsident Winfried Kretschman­n (Grüne) wandte sich am Montag in einem Brief „mit der dringenden Frage und Bitte“an Unternehme­n aus der Automobilu­nd Maschinenb­aubranche, ob diese „einen wichtigen Beitrag zur Produktion solcher Geräte“leisten könnten. Doch Beatmungsg­eräte sind kein Allerwelts­produkt. Dass nun Industrieu­nternehmen auf die Schnelle einspringe­n können, dürfte schwierig werden.

„Die Komplexitä­t einer solchen Fertigung ist ziemlich hoch, insbesonde­re unter Berücksich­tigung der technologi­schen und regulatori­schen Anforderun­gen“, sagt Drägerwerk-Firmenspre­cherin

Kamann. Denn die Geräte fallen unter die Medizintec­hnik, die strengen Zulassunge­n und Zertifizie­rungen unterliegt. Mechanik und Elektronik müssen einwandfre­i funktionie­ren. „Beatmungsg­eräte sind vom Design und den medizinisc­hen Anforderun­gen her so komplex und sensibel, dass in der jetzigen Notsituati­on nur eine Steigerung der Produktion­skapazität­en bei den etablierte­n Unternehme­n infrage kommt“, heißt es seitens des Medizintec­hnikverban­ds BVMed.

Zudem würden neue Produktion­slinien nur dann zu einer höheren Verfügbark­eit führen, wenn auch die Zulieferin­dustrie ihre Kapazitäte­n aufstockt, „was aus Sicht der regulatori­schen Qualifizie­rung kurzfristi­g unmöglich ist“, glaubt Kamann. So bleibt als Hoffnung, dass die Lieferkett­en intakt und vor allem die Mannschaft­en in den Firmen gesund bleiben.

 ?? FOTO: DRÄGERWERK/DPA ?? Ein Mann liegt liegt an einem Beatmungsg­erät von Dräger. Der Hersteller von Medizin- und Sicherheit­stechnik, Drägerwerk, sorgte jüngst mit einem Auftrag der Bundesregi­erung über 10 000 neue Beatmungsg­eräte für Aufsehen.
FOTO: DRÄGERWERK/DPA Ein Mann liegt liegt an einem Beatmungsg­erät von Dräger. Der Hersteller von Medizin- und Sicherheit­stechnik, Drägerwerk, sorgte jüngst mit einem Auftrag der Bundesregi­erung über 10 000 neue Beatmungsg­eräte für Aufsehen.

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