Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Improvisieren im virtuellen Klassenzimmer
Die Lehrerin Stephanie Wunderle aus Wangen unterrichtet Schüler per Video-Konferenz Wie viele Pädagogen muss sie in der Corona-Krise neue Wege gehen
- 10 Uhr morgens: Unterrichtsbeginn, aber keine Schulglocke läutet, keine Kinder stürmen ins Klassenzimmer. Das wäre ja auch verwunderlich, schließlich sind alle Schulen geschlossen. Dennoch beginnt bei Mathelehrerin Stephanie Wunderle in der württembergischen Allgäu-Stadt Wangen die Schulstunde. „Es muss ja irgendwie weitergehen“, betont sie.
Wie viele Pädagogen im Land versucht die sportliche junge Frau von der örtlichen Andreas-RauchRealschule das Lernen in Zeiten der Corona-Krise aufrechtzuerhalten – wenigstens auf Distanz. Landauf, landab wird daran gearbeitet. Die Krise hat die Schulen unvorbereitet getroffen. Von ausgearbeiteten Notfallplänen keine Spur. Weshalb Schulen wie Lehrer verschiedene Wege beschreiten. Auch Stephanie Wunderle hat ihren eigenen.
Fröhlich wünscht sie ihren Schülern aus der neunten Klasse „Guten Morgen“und schickt hinterher: „Habt ihr schon konkrete Fragen?“Das besondere an dem Unterricht: Wunderle sitzt ihm heimischen Wohnzimmer am leergeräumten Esstisch, ihre Schüler dagegen irgendwo in Wangen oder Umgebung im Kinderzimmer. Dennoch ist es eine Begegnung von Angesicht zu Angesicht, fast so als wären alle im gleichen Raum.
Das Ganze funktioniert wie eine Art Video-Konferenz über die eingebauten Kameras von Rechnern,
Laptops oder Smartphones. Dahinter versteckt sich das Programm Skype, das der jungen Generation meist ohnehin schon vertraut ist. „Es war dann auch eine Schülerin, die nach der Schulschließung wegen Skype auf mich zukam“, erzählt Wunderle. „Ich fand das eine gute Idee.“Ihre Schüler wohl auch.
Auf dem Bildschirm von Wunderles Laptop bewegt sich das Bild von Helena. Das Mädchen meldet sich mit einer Frage. „Bei der Nr. 5 auf der Seite 107, muss man das einfach nur in ein Koordinatensystem einordnen?“, will sie wissen. Die Lehrerin antwortet direkt. Später wird sie Mathe-Formeln auf dem Flipchart, einer Tafel mit Papierseiten, erklären. Ein Fingerzeig hier, eine Ergänzung mit dem Filzstift dort. Die Kamera des Laptops überträgt alles in die Kinderzimmer. Wunderle selbst kann sich links oben auf dem Bildschirm in einen Ausschnitt selber beobachten. Ein wenig wirkt die Szenerie tatsächlich als stünde die Lehrerin vor der Klasse.
Was die technische Ausstattung und entsprechende Programme betrifft, wären solche Lehrer-Schülerbegegnungen via Bildschirm längst möglich. Aber das Thema des virtuellen Lehrens und Lernens scheint bis vor wenigen Wochen auf Pädagogen-Ebene eher etwas für eine Minderheit gewesen zu sein, für Leute mit einem besonderen Faible für IT-Lösungen, also Informationstechnik. Es gab zwar ein ambitioniertes Landesprojekt mit dem schönen Namen Ella. Das Kürzel steht für Elektronische Lehrund Lernassistenz. Ella sollte eine IT-Plattform für möglichst alles sein: interaktives Lernen selbst von daheim aus, Abrufen von Schulaufgaben, Chats, Nachrichten, Speichern, et cetera – und dies über ein umfassendes Rechnernetz. CloudComputing ist der Begriff dafür. 2018 wurde das Projekt aber eingestellt. Die technische Entwicklung war vermurkst worden. Das Kultusministerium in Stuttgart hat zwar einen neuen Anlauf für eine solche IT-Plattform mit vielerlei Funktionen
WANGEN
unternommen. Vor 2023 wird jedoch nichts daraus werden.
Kein Wunder, wenn Doro Moritz, Vorsitzende der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft in Baden-Württemberg, sagt, die Schulen seien für einen digitalen Fernunterricht eher nicht vorbereitet gewesen. So hätten vielleicht gerade mal ein Prozent der Schulen TabletComputer für ihre Schüler. Die Ausstattung sei ihm Land extrem unterschiedlich. Immer wieder fehlte es auch an schnellem Internet.
Bei Stephanie Wunderle existierte die IT-Infrastruktur ebenso wenig. Sie musste improvisieren, das private Laptop herrichten. Ihr Hobby ist das nicht. Lieber macht sie Sport, ebenfalls ein Fach, das sie unterrichtet, neben Mathe und Mensch und Umwelt. Vor allem das Laufen liegt Wangens Sportlerin des Jahres am Herzen. Mit Blick auf die Informationstechnik hat Wunderle aber dennoch einen kleinen Vorsprung gegenüber ihren Kollegen: Sie betreut nicht nur die Website der Schule, ihr Mann ist auch Unternehmer in der IT-Branche. „Klar hat sich Skypen für Stephanie Wunderle angeboten“, sagt Heiko Kloos, Rektor der Realschule. Sie sei aber auch die Einzige im Kollegium, die dieses Instrument nutze.
Ansonsten läuft der Fernunterricht an der Wangener Schule über deren Webseite. „Die Schüler bekommen einen Wochenplan mit dem, was sie durcharbeiten sollten. Das können sie abrufen“, berichtet Kloos. Einen verbalen Austausch zwischen Schüler und Lehrer ermöglicht dies nicht. Kloos weist aber darauf hin, dass „Kollegen beispielsweise per Telefon für individuelle Fragen bereit stehen“. Je nach Fach sei der Aufwand „natürlich unterschiedlich“. Schmunzelnd erwähnt er einen Sportlehrer: „Der Kollege hat einfach täglich Trainingsfilme auf die Webseite gestellt.“Ein kurzer Blick darauf zeigt Morgengymnastik.
Prinzipiell wird aktuell mit dem Fernunterricht noch experimentiert – in Wangen und anderswo. Für ein einheitliches Vorgehen im Land fehlt es an vielem. Dies fängt schon beim Überblick über die IT-Ausstattung von Schulen und Schülern an. Dienstliche Geräte an den Schulen sind zwar erfasst, aber wie erwähnt zahlenmäßig durchaus begrenzt. Daher kommt es auf die private Ausstattung an. Wie hier die Zahlen sowie die Qualität von Hard- wie Software aussehen, weiß niemand so genau. Schon weil sich das praktisch täglich ändert. Das Kultusministerium hat deshalb zu Beginn der Schulschließungen Mitte März deutlich gemacht, es könnten „für die Kommunikation mit den Schülerinnen und Schülern grundsätzlich alle Kommunikationswege“genutzt werden: „Analog wie digital.“
Es funktioniert in manchen Fällen aber auch ganz handfest. Dies war unter anderem bei einer kleinen Grundschule im Bodenseeraum festzustellen. Die Lehrerschaft hat kurzentschlossen Hausaufgaben in Pappschachteln gepackt und diese vor den Schuleingang gestellt. Eltern durften das Material dann abholen – eine etwas archaisch wirkende Methode.
Wobei das Kultusministerium durchaus auch konkrete Ideen für das moderne Krisenmanagement hat. Das Stichwort heißt Moodle. Dahinter verbirgt sich eine kostenlose digitale Lernplattform. Sie ist im Südwesten bereits bekannt, vereinzelt nutzen Schulen sie für interaktiven Unterricht in Lerngruppen. Also ein zukunftsträchtiges Werkzeug? Zum Auftakt der Krise konnte es diesen Nachweis nicht erbringen. Moodle brach offenbar wegen Überlastung zusammen. Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) bat öffentlich um Verständnis: „So eine Situation hat es noch nie gegeben. Wir arbeiten alle rund um die Uhr mit Hochdruck an Lösungen.“
Es existieren noch weitere Lernplattformen, etwa alfaview. Wer sich unter Lehrern umhört, bekommt jedoch den Eindruck, dass jeder auf eine andere schwört. In Bayern etwa wird gerne die Plattform Mebis gelobt. Lehrer und Schüler durften dort aber zu Beginn der Schulschließungen gleich Erfahrungen mit Cyberkriminalität machen.
Hacker hatten sich über Mebis hergemacht. Die Funktion war vorerst eingeschränkt.
Beim Lehrbetrieb in Stephanie Wunderles Wohnzimmer ist offenbar noch kein Sand ins Getriebe gekommen. „Alles funktioniert“, beteuert sie. Mögliche Störungen werden vorsorglich umgangen. Sie sind menschlicher Natur und betreffen die beiden Buben der Lehrerin, einer im Vorschulalter, der andere in der ersten Klasse – beide jetzt auch zwangsweise daheim. Spielzeugspuren auf dem Parkett zeigen, dass anständig getobt wird. Wenn die Mama aber unterrichtet, müssen die zwei jedoch in den Garten oder in den ersten Stock – wie im Moment. Nur der Ältere schleicht sich kurz zum Wohnzimmertisch, dem Lehrerpult. „Brauchst Du eine Bibi-BlocksbergKassette?“, fragt Wunderle rasch. „Ja“, lautet die Antwort.
Dann sind wieder ihre Schüler dran. Eva-Marias Bild bewegt sich auf dem Laptop-Bildschirm. Sie streicht sich durch die Haare und will etwas zur „Normalparabel“wissen. Die Erklärung folgt. Später meint Wunderle: „Gerade in Mathe ist es eben wichtig, dass die Schüler direkte Fragen stellen können, wenn sie etwas nicht verstehen. Das ist von Angesicht zu Angesicht natürlich optimal.“
Die Schüler loben Wunderle via Skype: „Eine gute Sache.“Nachvollziehbar. Napoleon oder das Lehenswesen des Mittelalters lassen sich für den Geschichtsunterricht im stillen Kämmerlein nachlesen. Vokabeln lernen geht erfahrungsgemäß auch alleine. Aber mathematische Formeln? Schwer. „Darum ist der Unterricht über Skype ein zusätzliches Angebot von mir“, erklärt Wunderle. Es läuft neben den obligatorischen Matheaufgaben des Wochenplans auf der schulischen Website. Übrigens ist das Angebot freiwillig. Schon deshalb, weil es nicht vorauszusetzen sei, dass tatsächlich jeder Schüler über die technischen Möglichkeiten verfügt, wie es heißt.
Bisher haben sich 24 von 30 Schülern der Klasse in den tagtäglichen Skype-Unterricht eingewählt. „Tatsächlich mitmachen“, sagt Wunderle, „tun so im Schnitt 14 Schüler.“Da spielt wohl zum Teil auch der persönliche Ehrgeiz eine Rolle. Manchmal tauchten Schüler auf den Bildern noch im Schlafanzug auf, für die Lehrerin ist das aber eher ein Grund zum Schmunzeln als zum Schimpfen. Generell stellt sich natürlich die Frage, was solch ein Fernunterricht bringt. „Ganz klar: Normale Schule ist dies nicht. Jene Schüler, die fleißig sind, können aber zumindest ihren Stand halten“, glaubt Wunderle.
Von Lehrervertretungen sind ähnliche Einschätzungen zu hören. Der Verband Bildung und Erziehung hat verlautbart, dass ein irgendwie gearteter Fernunterricht nach Rückmeldungen aus den Schulen „unter dem Strich gut funktioniert“. Ralf Scholl, Landesvorsitzender des Philologenverbands, bemängelt zwar, dass „eine flächendeckende Möglichkeit für klassenweise Videokonferenzen“fehle. Wäre eine solche Möglichkeit aber gegeben, sei „trotz Schülern zu Hause fast ein normaler Unterricht möglich“. Aus dem bayerischen Kultusministerium heißt es dazu staatstragend, digitales Lernen leiste „einen sehr relevanten Beitrag zum Üben, Wiederholen und Vorbereiten auf Prüfungen“.
Wunderle ist in diesem Zusammenhang durchaus froh, dass ihre Matheschüler zum Schuljahresende keine Abschlussprüfung haben: „Das entspannt die Situation ein bisschen. Der Druck ist nicht so da.“Mag sein. Dafür dürfte es schwieriger sein, die Schüler bei den Skype-Lektionen motiviert zu halten. „Ach, ich weiß nicht. Bis jetzt läuft es – zumindest bei denen, die mitmachen“, erzählt Wunderle. Abgesprungen sei aber niemand.
Vielleicht heißt es deshalb nach einer Stunde gegen 11 Uhr so schön: „Bis morgen, bleibt gesund.“Wunderle kann danach in Socken zur Küche hinübergehen und sich am Sprudelautomat bequem ein Glas Wasser holen. So hat das Homeoffice wenigstens etwas Charme für die Lehrerin.