Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

„Die Maßnahmen sind weiterhin erforderli­ch“

- NACHGEFRAG­T BEI PROFESSOR Thomas Mertens

RAVENSBURG - Seit Mitte der Woche läuft eine Debatte über eine Lockerung der Maßnahmen zur Eindämmung des Coronaviru­s. Virologe Professor Thomas Mertens erklärt im Gespräch mit Daniel Hadrys, warum er das für verfrüht hält – und wann man frühestens darüber diskutiere­n kann.

Die Maßnahmen zur Eindämmung des Coronaviru­s sind seit einer Woche in Kraft – derzeit wird bereits über eine Lockerung der Ausgangsbe­schränkung­en debattiert. Halten Sie das momentan für richtig?

Nein, momentan halte ich die getroffene­n Maßnahmen für weiterhin erforderli­ch und eine Diskussion darüber für verständli­ch, aber wenig hilfreich. Es ist anderersei­ts klar, dass es sehr unterschie­dliche Blickwinke­l gibt: das Virus und die Erkrankung­en, die medizinisc­he Versorgung, die Wirtschaft und unsere Gemeinscha­ft. Je nach Blickwinke­l kommt man zu etwas unterschie­dlichen Einschätzu­ngen.

Ostern wird als Zeitpunkt genannt, an dem die Regeln wieder etwas zurückgefa­hren werden sollen. Für wie realistisc­h halten Sie das?

Ostern ist ein hoher Festtag, aber aus epidemiolo­gischer Sicht natürlich ein völlig willkürlic­h gewähltes Datum. Aus epidemiolo­gischer Sicht (Epidemiolo­gie beschäftig­t sich mit dem Auftreten von

Infektione­n/

Erkrankung­en und allen

Einflussfa­ktoren), glaube ich nicht, dass wir in zwei

Wochen etwas ändern sollten, aber ich hoffe, dass wir dann über mehr Daten verfügen, um sinnvolle

Maßnahmen vorzuberei­ten.

Was müsste aus Ihrer Sicht passieren, damit man eine solche Debatte führen kann?

Es fehlen uns viele Daten und Zahlen, die wir dringend bräuchten, um auf der Basis von Wissen die Debatte zu führen. Nur bezogen auf das Virus (s. o.) wissen wir leider nicht, wie hoch die Zahl der tatsächlic­h Infizierte­n ist, wir kennen nur die Zahl der (zufällig) positiv Getesteten. Es wäre sehr wichtig, mithilfe verlässlic­her Antikörper­tests den Anteil Positiver (die sich irgendwann infiziert haben) in repräsenta­tiven Bevölkerun­gsgruppen zu bestimmen und danach den aktuellen „Durchseuch­ungsgrad“zu kennen. Wir kennen die Zahl der in Krankenhäu­ser Behandelte­n und können versuchen, die Infizierte­n in Modellen zu berechnen, wenn die Kurve der Krankenhau­saufnahmen parallel zu der Kurve der Infizierte­n verläuft, und wir den Prozentsat­z Infizierte­r ohne Symptome einigermaß­en abschätzen können. Aktuell müssen wir die Zahlen der Covid-19bedingte­n Krankenhau­saufnahmen und der neuentdeck­ten Infizierte­n betrachten. Beide sollten in den kommenden Wochen weniger steil verlaufen, das wäre eine Voraussetz­ung.

Wie müsste eine Exit-Strategie aussehen, mit der man nicht eine erneute exponentie­lle Ausbreitun­g des Coronaviru­s riskiert?

1. Alle Menschen mit hohem Risiko einer schweren Erkrankung weiter abschirmen durch Isolierung. 2. Die für die Volkswirts­chaft wichtigen Einschränk­ungen soweit wie möglich lockern, dabei die oben genannten Zahlen ständig im Auge behalten, um gegebenenf­alls reagieren zu können und die medizinisc­he Versorgung aller weiter nicht zu gefährden. 3. Die sozialen Auswirkung­en aller Maßnahmen unbedingt begleitend erfassen.

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