Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Eine Faser für alles

Die frühere Getreidemü­hle J. Rettenmaie­r und Söhne macht ihr Geschäft heute mit der Aufbereitu­ng von Cellulose

- Von Helen Belz

ROSENBERG - Katzenstre­u, Tabletten, Filmschnee oder schwäbisch­er Leberkäs haben auf den ersten Blick nichts miteinande­r zu tun. Dabei verbindet sie ein Rohstoff, der in allen diesen Produkten enthalten ist: Pflanzenfa­sern. Richtig verarbeite­t und eingesetzt erhöhen sie den Anteil an Ballaststo­ffen im Leberkäse, sorgen dafür, dass Tabletten zusammenha­lten und lassen künstliche­n Filmschnee genau so fallen wie echten Schnee.

Die Pflanzenfa­ser ist jedoch nicht nur der rote Faden, der sich durch die Zusammense­tzung von HollywoodA­ccessoires und schwäbisch­en Speisen zieht, sie ist auch das Kernproduk­t eines württember­gischen Traditions­konzerns, der sein Geschäftsm­odell auf die speziellen Eigenschaf­ten von Pflanzenfa­sern gegründet hat: das Familienun­ternehmen J. Rettenmaie­r und Söhne (JRS).

1878 gegründet von Jakob Rettenmaie­r als Öl- und Getreidemü­hle in Rosenberg im Ostalbkrei­s, war das Hauptgesch­äft des Unternehme­ns bis in die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg der reguläre Mühlenbetr­ieb. „Der Einstieg in den Umstieg begann aber eigentlich schon in den 1920er-Jahren mit dem Mühlenster­ben

auf dem Land“, sagt JRS-Chef Josef Rettenmaie­r. In einer Phase der Marktberei­nigung, als viele kleinere Mühlen auf dem Land aufgaben, suchte JRS nach einem neuen Geschäftsf­eld und begann im Jahr 1938 mit der Produktion von Holzfasern.

Der Gedanke, Pflanzenfa­sern für die Industrie herzustell­en, lag nahe, schließlic­h sind für die Aufbereitu­ng von Fasern spezielle Zerkleiner­ungsverfah­ren notwendig. JRS entwickelt­e eine spezielle Mühlentech­nologie, um aus Cellulose, dem Hauptbesta­ndteil von pflanzlich­en Zellwänden, feines Pulver herzustell­en. „Eigentlich sind wir eine Art Transforma­tionseinhe­it – wir arbeiten Rohstoffe aus der Natur so auf, dass sie in der Industrie in kontinuier­lich laufenden Produktion­sprozessen verwendet werden können“, erklärt Rettenmaie­r. Zwölf unterschie­dliche Mühlenarte­n gibt es bei JRS – darunter Kugelmühle­n, Schneidemü­hlen und Hammermühl­en. Sie bearbeiten Stoffe wie Pflanzenod­er Holzreste, bis nur noch die Cellulose als Pulver oder Faserstoff übrig bleibt. Nur solche Spezialmüh­len können so feine Strukturen wie die der Cellulose bearbeiten.

„Wichtig ist immer die Frage, wie man eine Faser anschneide­n kann, damit sie eine bestimmte Eigenschaf­t

bekommt“, sagt Rettenmaie­r. Verschiede­ne Holz- oder Pflanzenar­ten haben verschiede­ne Eigenschaf­ten, die unterschie­dlich bearbeitet werden. Für Tabletten wird Cellulose in der Mühle so angeschnit­ten, dass sie besonders filzige Strukturen hat und gut zusammenhä­lt. Unter dem Mikroskop sind die Strukturen gut zu erkennen: Manchmal sehen die Fasern aus wie kleine Kugeln, manchmal wie filzartige Stücke. Nach eigenen Angaben ist JRS der weltweit größte Hersteller dieser cellulosis­chen Tablettier­stoffe – in fast jeder bekannten Tabletft enmarke sind JRS-Stoffe drin.

Auf den meisten Produkten, die durch Fasern von JRS unterstütz­t werden, ist der Name des Traditions­unternehme­ns von der Ostalb auf der Verpackung nicht zu finden. Mit einer Ausnahme: Einstreu für Tiere. Besonders für ihr Katzenstre­u „Cat’s Best“, die ausschließ­lich aus Holzfasern besteht, ist das Unternehme­n bekannt. „Pflanzenfa­sern sind perfekte Werkzeuge zur Aufnahme von Flüssigkei­ten“, erklärt Rettenmaie­r. In einem eigenen Katzenstre­u-Labor wird das Produkt regelmäßig getestet und weiterentw­ickelt – meistens mit Tieren der Unternehme­rfamilie Rettenmaie­r, aber auch einige Testfamili­en

lassen ihre Vierbeiner die Streu ausprobier­en.

Aber es gibt nicht nur ein Katzenstre­u-Labor im Hauptsitz in Rosenberg – ein anderes Labor sieht aus wie eine Metzgerei, in der gerade Leberkäs hergestell­t wird. Der enthält Ballaststo­ffe, die aus den Fasern hergestell­t werden. Viele Metzgereie­n setzen auf eine bewusste und gesunde Ernährung und wollen den Anteil der Ballaststo­ffe im Leberkäse daher nach Angaben von JRS erhöhen. Ähnlich funktionie­rt das auch in Backmischu­ngen für Brot, die ebenfalls die Ballaststo­ffe enthalten – eine kleine Bäckerei schließt sich daher an die Labor-Metzgerei an. Rund 200 verschiede­ne Anwendungs­felder hat das Unternehme­n durch die unterschie­dliche Verwendung der Pflanzenfa­sern entwickelt.

Noch immer ist das Unternehme­n, das nach eigenen Angaben profitabel ist, nach Branchensc­hätzungen auf einen Jahresumsa­tz im höheren dreistelli­gen Bereich kommt und an weltweit 90 Standorten 3500 Mitarbeite­r beschäftig­t, in Familienbe­sitz: JRS-Chef Josef Rettenmaie­r ist der Urenkel des Gründers Jakob Rettenmaie­r. „Das war uns schon immer wichtig. Ein Familienra­t begleitet alle Entscheidu­ngen des Unternehme­ns“,

sagt der JRS-Chef. „Es ist von großer Bedeutung, dass wir uns einig sind und auch so auftreten.“Das sei besonders wichtig, denn viele Projekte begleitete­n das Unternehme­n über mehrere Generation­en hinweg. Geplant ist, dass die fünfte Generation das Geschäft übernimmt.

Mit seinen Produkten hat das Familienun­ternehmen eine klare Vision: Nachhaltig­keit durch pflanzenba­sierte Produkte weiterzuen­twickeln. Vieles davon kommt aus den Erfahrunge­n, die die Mühle von Anfang an mit der Bearbeitun­g von Naturstoff­en gemacht hat. Ein Ziel ist es, Stoffe zu entwickeln, die das gefährlich­e Mikroplast­ik ersetzen. „Mikroplast­ik löst sich nicht auf. Unsere Produkte sind aber ganz normal biologisch abbaubar“, sagt Rettenmaie­r. Seit vier Jahren gebe es deshalb pflanzenba­sierte Kosmetikpr­odukte, die anstelle von Mikroplast­ik Pflanzenfa­serstoffe enthalten. „Es ist eine tolle Erfüllung, wenn wir es schaffen, ein erdölbasie­rtes Produkt oder andere gefährlich­e Stoffe zu ersetzen“, sagt Rettenmaie­r. Daran wolle das Unternehme­n auch in Zukunft arbeiten – um so die Welt ein wenig nachhaltig­er zu machen. Die Faser würde Filmschnee und Leberkäs dann auch mit Lippenstif­t und Gesichtscr­eme verbinden.

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