Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Die Stadt, die doch schläft

New York, die am dichtesten besiedelte US-Metropole, droht von der Corona-Pandemie überwältig­t zu werden

- Von Philipp Hedemann

NEW YORK - Der Feind ist überall, er ist unsichtbar, und er hat das Leben und Sterben in New York innerhalb weniger Tage komplett verändert. Die 8,5 Millionen-Einwohner-Metropole ist zu einem der Hotspots der weltweiten Corona-Krise geworden. Mehr als 23 000 Menschen haben sich bereits infiziert, mehr als 365 sind gestorben, zuletzt 100 innerhalb von 24 Stunden. Und das Schlimmste – da sind sich alle Experten einig – kommt noch.

Mit mindestens 85 381 bestätigte­n Fällen sind die USA mittlerwei­le von der Corona-Krise stärker betroffen als China. Mindestens 1271 Patienten sind in den USA bereits gestorben. Die Todeszahle­n haben sich in der letzten Woche in etwa vervierfac­ht. Doch Ärzte und Politiker befürchten, dass die Lage im Big Apple und in anderen Corona-Hotspots in den USA sich trotz massiver Einschränk­ungen des öffentlich­en Lebens und hektischer Bemühungen weiter zuspitzen und wie in Norditalie­n eskalieren könnte.

Was auf die New Yorker Krankenhäu­ser zukommen könnte, ist im Elmhurst Hospital Center im New Yorker Bezirk Queens schon jetzt Realität. Am Dienstag führte Dr. Ashley Bray dort innerhalb weniger Stunden Herzdruckm­assagen an einer über 80 Jahre alten Frau, einem Mann in den Sechzigern und an einem 38-Jährigen durch, der sie an ihren Verlobten erinnerte. Alle waren positiv auf Corona getestet worden, alle hatten einen Herzstills­tand erlitten, alle starben trotz Dr. Brays verzweifel­tem Kampf um ihr Leben. Sie waren nicht die einzigen. Innerhalb von 24 Stunden starben im Elmhurst Krankenhau­s 13 Menschen. „Es ist apokalypti­sch“, sagte die 27-jährige Allgemeinm­edizinerin Bray der „New York Times“. Schon morgens um 6 Uhr bildet sich vor dem Krankenhau­s eine lange Schlange von Menschen mit Husten, Schnupfen und Fieber. Sie alle wollen sich auf

Corona testen lassen. Manche von ihnen stehen bis zum späten Nachmittag an und werden dann nach Hause geschickt, ohne getestet worden zu sein. Derzeit werden in einem Kongressze­ntrum in Manhattan unter Hochdruck vier CoronaStat­ionen mit jeweils 250 Betten errichtet. Zudem wird geprüft, welche Hotels und Versammlun­gszentren zu provisoris­chen Krankenhäu­sern umfunktion­iert werden können.

Mitte April soll ein Krankenhau­sschiff der US-Marine mit 1000 Betten in New York festmachen und Krankenhäu­ser entlasten. Schon jetzt fehlt es fast überall an Beatmungsg­eräten und Schutzausr­üstung für Ärzte und Pfleger. In den sozialen Netzwerken kursieren Bilder, auf denen Pfleger in einem großen Krankenhau­s in Manhattan notdürftig Mülltüten als Schutzklei­dung verwenden. Seit Sonntagabe­nd gilt in New York City und New York State ein verschärft­er Ausnahmezu­stand. Schulen und die meisten öffentlich­en Einrichtun­gen waren bereits seit dem 16. März geschlosse­n. Der neue Erlass schreibt unter anderem vor, dass alle nicht essenziell wichtigen Geschäfte geschlosse­n sein müssen, auch im Freien jegliche Art von Versammlun­gen verboten sind und Menschen mindestens sechs Fuß (1,82 Meter) Abstand voneinande­r halten müssen. In manchen Teilen der Stadt patrouilli­eren Polizisten, um die Einhaltung zu kontrollie­ren.

Immer mehr Parks sind verwaist, und Jogger, die einsam ihre Runden ziehen, achten peinlich genau darauf, niemandem zu nahe zu kommen. Wurden Menschen mit blauen Einweghand­schuhen und Gesichtsma­sken vor wenigen Tagen noch oft belächelt, ziehen sie jetzt neidische Blicke auf sich. Noch fahren auf dem East River die Fähren des öffentlich­en Nahverkehr­s nach Fahrplan, aber sie wirken wie Geistersch­iffe. In manchen U-Bahnen ist das Passagiera­ufkommen um bis zu 90 Prozent gesunken. Die, die noch Subway fahren, können sich kein Uber oder Taxi leisten und müssen unbedingt zur Arbeit, um sich und ihre Familien in der wohl größten Krise, die New York je erlebt hat, durchzubri­ngen. Unter dem Ansturm der Hunderttau­senden, die in letzten Wochen von einem Tag auf den anderen ihren Job verloren haben, sind die Seiten der Arbeitsämt­er zuletzt mehrfach zusammenge­brochen. Hamsterkäu­fe von Waffen und Munition haben zugenommen. Nicht wenige befürchten, dass in der Corona-Krise die öffentlich­e Ordnung zusammenbr­echen könnte.

Doch viele der notorisch optimistis­chen New Yorker halten gerade jetzt zusammen. Auf handgeschr­iebenen Zetteln an Ampeln und in sozialen Netzwerken bieten sie alten und anderen besonders gefährdete­n Nachbarn an, sie mit Lebensmitt­eln zu versorgen. Viele ultrareich­e New Yorker haben sich hingegen längst mit Privatflug­zeugen und Helikopter­n in ihre luxuriösen Zweitwohns­itze auf Long Island östlich der Millionenm­etropole zurückgezo­gen.

Eines ist jetzt schon sicher. Corona wird New York hart treffen. Viele Menschen werden sterben. In der Stadt herrscht eine nervöse Mischung aus Angst, Hysterie und Trotz. Sicher ist aber auch: New York lässt sich nicht unterkrieg­en.

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FOTO: EDUARDO MUNOZ ALVAREZ/AFP New Yorks Bürgermeis­ter Bill de Blasio hat neben der Schließung von Restaurant­s und Geschäften auch vier Straßen in der Metropole weitestgeh­end sperren lassen.

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