Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Die Stadt, die doch schläft
New York, die am dichtesten besiedelte US-Metropole, droht von der Corona-Pandemie überwältigt zu werden
NEW YORK - Der Feind ist überall, er ist unsichtbar, und er hat das Leben und Sterben in New York innerhalb weniger Tage komplett verändert. Die 8,5 Millionen-Einwohner-Metropole ist zu einem der Hotspots der weltweiten Corona-Krise geworden. Mehr als 23 000 Menschen haben sich bereits infiziert, mehr als 365 sind gestorben, zuletzt 100 innerhalb von 24 Stunden. Und das Schlimmste – da sind sich alle Experten einig – kommt noch.
Mit mindestens 85 381 bestätigten Fällen sind die USA mittlerweile von der Corona-Krise stärker betroffen als China. Mindestens 1271 Patienten sind in den USA bereits gestorben. Die Todeszahlen haben sich in der letzten Woche in etwa vervierfacht. Doch Ärzte und Politiker befürchten, dass die Lage im Big Apple und in anderen Corona-Hotspots in den USA sich trotz massiver Einschränkungen des öffentlichen Lebens und hektischer Bemühungen weiter zuspitzen und wie in Norditalien eskalieren könnte.
Was auf die New Yorker Krankenhäuser zukommen könnte, ist im Elmhurst Hospital Center im New Yorker Bezirk Queens schon jetzt Realität. Am Dienstag führte Dr. Ashley Bray dort innerhalb weniger Stunden Herzdruckmassagen an einer über 80 Jahre alten Frau, einem Mann in den Sechzigern und an einem 38-Jährigen durch, der sie an ihren Verlobten erinnerte. Alle waren positiv auf Corona getestet worden, alle hatten einen Herzstillstand erlitten, alle starben trotz Dr. Brays verzweifeltem Kampf um ihr Leben. Sie waren nicht die einzigen. Innerhalb von 24 Stunden starben im Elmhurst Krankenhaus 13 Menschen. „Es ist apokalyptisch“, sagte die 27-jährige Allgemeinmedizinerin Bray der „New York Times“. Schon morgens um 6 Uhr bildet sich vor dem Krankenhaus eine lange Schlange von Menschen mit Husten, Schnupfen und Fieber. Sie alle wollen sich auf
Corona testen lassen. Manche von ihnen stehen bis zum späten Nachmittag an und werden dann nach Hause geschickt, ohne getestet worden zu sein. Derzeit werden in einem Kongresszentrum in Manhattan unter Hochdruck vier CoronaStationen mit jeweils 250 Betten errichtet. Zudem wird geprüft, welche Hotels und Versammlungszentren zu provisorischen Krankenhäusern umfunktioniert werden können.
Mitte April soll ein Krankenhausschiff der US-Marine mit 1000 Betten in New York festmachen und Krankenhäuser entlasten. Schon jetzt fehlt es fast überall an Beatmungsgeräten und Schutzausrüstung für Ärzte und Pfleger. In den sozialen Netzwerken kursieren Bilder, auf denen Pfleger in einem großen Krankenhaus in Manhattan notdürftig Mülltüten als Schutzkleidung verwenden. Seit Sonntagabend gilt in New York City und New York State ein verschärfter Ausnahmezustand. Schulen und die meisten öffentlichen Einrichtungen waren bereits seit dem 16. März geschlossen. Der neue Erlass schreibt unter anderem vor, dass alle nicht essenziell wichtigen Geschäfte geschlossen sein müssen, auch im Freien jegliche Art von Versammlungen verboten sind und Menschen mindestens sechs Fuß (1,82 Meter) Abstand voneinander halten müssen. In manchen Teilen der Stadt patrouillieren Polizisten, um die Einhaltung zu kontrollieren.
Immer mehr Parks sind verwaist, und Jogger, die einsam ihre Runden ziehen, achten peinlich genau darauf, niemandem zu nahe zu kommen. Wurden Menschen mit blauen Einweghandschuhen und Gesichtsmasken vor wenigen Tagen noch oft belächelt, ziehen sie jetzt neidische Blicke auf sich. Noch fahren auf dem East River die Fähren des öffentlichen Nahverkehrs nach Fahrplan, aber sie wirken wie Geisterschiffe. In manchen U-Bahnen ist das Passagieraufkommen um bis zu 90 Prozent gesunken. Die, die noch Subway fahren, können sich kein Uber oder Taxi leisten und müssen unbedingt zur Arbeit, um sich und ihre Familien in der wohl größten Krise, die New York je erlebt hat, durchzubringen. Unter dem Ansturm der Hunderttausenden, die in letzten Wochen von einem Tag auf den anderen ihren Job verloren haben, sind die Seiten der Arbeitsämter zuletzt mehrfach zusammengebrochen. Hamsterkäufe von Waffen und Munition haben zugenommen. Nicht wenige befürchten, dass in der Corona-Krise die öffentliche Ordnung zusammenbrechen könnte.
Doch viele der notorisch optimistischen New Yorker halten gerade jetzt zusammen. Auf handgeschriebenen Zetteln an Ampeln und in sozialen Netzwerken bieten sie alten und anderen besonders gefährdeten Nachbarn an, sie mit Lebensmitteln zu versorgen. Viele ultrareiche New Yorker haben sich hingegen längst mit Privatflugzeugen und Helikoptern in ihre luxuriösen Zweitwohnsitze auf Long Island östlich der Millionenmetropole zurückgezogen.
Eines ist jetzt schon sicher. Corona wird New York hart treffen. Viele Menschen werden sterben. In der Stadt herrscht eine nervöse Mischung aus Angst, Hysterie und Trotz. Sicher ist aber auch: New York lässt sich nicht unterkriegen.