Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Schwedische Verdrängung
Die Regierung in Stockholm hat bislang nur sanfte Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie ergriffen
STOCKHOLM - In Schweden gibt es nicht weniger Corona-Fälle als in anderen EU-Ländern. Dennoch geht das Land einen viel weicheren Weg bei der Corona-Bekämpfung als der Rest Europas. Dafür gibt es Lob – die Mehrheit der Schweden steht hinter dieser Politik – aber auch viel Kritik. Fast alles bleibt geöffnet.
Am Freitag hat Stockholm erstmals seinen Bürgern neben Empfehlungen ein richtiges Verbot aufgedrückt: Zusammenkünfte von über 50 Personen sind verboten. Eine drastische Verschärfung für schwedische Verhältnisse. Denn bislang ist das Land weit weg von der Hysterie im Rest von Europa. Während in Deutschland das öffentliche Leben nahezu stillsteht, hat die Pandemie etwa auf das schwedische Nachtleben bislang nur geringe Auswirkungen gezeigt.
In der Bar Tjoget im hippen Stockholmer Staddteil Hornstull am Donnerstagabend um 22.23 Uhr: Musik spielt, Gläser klirren, Stimmengewirr überall. Am Fenster sitzen Ebba und ihre Freundinnen Tova und Agens. Die Bar ist nicht gefüllt wie sonst, aber doch voll. Habt ihr keine Angst? „Ach, jüngere Leute werden ja kaum krank vom Virus, außerdem wären die Bars ja zugemacht worden, wenn das gefährlich wäre“, sagt Ebba und nippt an ihrem Whysik Sour.
Tatsächlich steppt in Schweden noch immer der Bär, wenn auch verhaltener. So wurde noch in der vergangenen Woche aus den Skigebieten von feuchtfröhlichen Apres-Ski- Parties berichtet. Events mit bis zu 499 Teilnehmern, weil alles ab 500 verboten ist. „Auf der schwedischen Titanic spielt noch die Musik“, kommentierte die Zeitung „SvD“kritisch. Zu diesem Wochenede haben die Schweden ihre frischen Gehaltsüberweisungen auf dem Konto. Auch deshalb dürfte Stockholm nun doch die Notbremse gezogen haben und zumindest Zusammenkünfte mit mehr als fünfzig Personen verboten haben. Doch das Leben geht immer noch freier zu als andernorts.
Arbeitnehmern wurde empfohlen, von zu Hause aus zu arbeiten, falls es geht. Sogar Kinos sind noch offen, auch wenn sich viele Betreiber zur Schließung entschieden haben. Die wichtigste Maßnahme in Schweden bleibt ein Appell: Bleibt zu Hause, wenn ihr euch auch nur leicht krank fühlt – ansonsten lebt so normal wie möglich. Auch die Verlegung des Schulunterrichts ab der 10. Klasse ins Internet war nicht mehr als eine Empfehlung der Regierung. Fast alle Einrichtungen sind dem gefolgt. Kindergärten und Grundschulen zu schließen, sei nicht vertretbar. Woher die schwedische Gelassenheit?
In Schweden lassen die Politiker in erster Linie die Wissenschaftler der nationalen Gesundheitsbehörde über die Eindämmungspolitik entscheiden. Vor allem Anders Tegnell, Arzt mit Philosophie-Doktortitel und Staatsepidemiologe, trägt die Hauptverantwortung für die rund zehn Millionen Schweden. Er ist derzeit einer der umstrittensten Männer des Landes. Sein Chef vom Gesundheitsamt ermahnte die Bürger: Es sei „unwürdig“,
wie derzeit auf Tegnell herumgehackt werde. Eine Gruppe von Fachärzten etwa hält die laxe Strategie für verantwortungslos. Die Zeitung „Expressen“feiert den Staatsepidemiologen aber als Held, weil er Standhaftigkeit gegen wissenschaftlich angeblich nicht fundierten aber bei Wählern ankommenden Aktionismus der Politiker in anderen Ländern beweist. Tegnell räumt ein, dass die schlimmste Phase noch nicht erreicht ist, dass noch mehr sterben werden.
Am Freitag waren es 92 Tote in Schweden seit Ausbruch, derzeit sind 209 Patienten auf Intensivstationen. Die Zahl der bestätigten CoronaKranken lag am Freitag bei 3046. Das Gesundheitswesen verzeichnet bislang keinerlei Engpässe. Auch Hamsterkäufe halten sich in Grenzen. Im Stockholmer Viertel Hornstull zumindest gibt es noch keine leeren Warenregale in den Geschäften. Bislang habe es es laut Tegnell auch keine Kapazitätsprobleme für Kranke gegeben, auch wenn das Land derzeit vorsorglich ausbaut. Wer in Schweden keine schlimmen Symptome hat, darf sich auch nicht aus das Virus testen lassen.
Laut Tegnell sei das die bessere Strategie. „Wir brauchen eine große Akzeptanz im Volk, die nicht nur wenige Wochen hält“, sagt er. Nur die Altenheime und Schwerkranken versucht das Land durch Abriegelung zu schützen. Jetzt habe eine Eindämmung durch die Schließung des ganzen Landes ohnehin keine Aussicht mehr auf Erfolg, so der Staatsepidemiologe. Doch Ministerpräsident Löfven warnte in seiner ersten Rede an die Nation überhaupt seit dem Ausbruch: Härtere Maßnahmen könne er in den kommenden Wochen nicht ausschließen.