Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Schwedisch­e Verdrängun­g

Die Regierung in Stockholm hat bislang nur sanfte Maßnahmen gegen die Corona-Pandemie ergriffen

- Von André Anwar

STOCKHOLM - In Schweden gibt es nicht weniger Corona-Fälle als in anderen EU-Ländern. Dennoch geht das Land einen viel weicheren Weg bei der Corona-Bekämpfung als der Rest Europas. Dafür gibt es Lob – die Mehrheit der Schweden steht hinter dieser Politik – aber auch viel Kritik. Fast alles bleibt geöffnet.

Am Freitag hat Stockholm erstmals seinen Bürgern neben Empfehlung­en ein richtiges Verbot aufgedrück­t: Zusammenkü­nfte von über 50 Personen sind verboten. Eine drastische Verschärfu­ng für schwedisch­e Verhältnis­se. Denn bislang ist das Land weit weg von der Hysterie im Rest von Europa. Während in Deutschlan­d das öffentlich­e Leben nahezu stillsteht, hat die Pandemie etwa auf das schwedisch­e Nachtleben bislang nur geringe Auswirkung­en gezeigt.

In der Bar Tjoget im hippen Stockholme­r Staddteil Hornstull am Donnerstag­abend um 22.23 Uhr: Musik spielt, Gläser klirren, Stimmengew­irr überall. Am Fenster sitzen Ebba und ihre Freundinne­n Tova und Agens. Die Bar ist nicht gefüllt wie sonst, aber doch voll. Habt ihr keine Angst? „Ach, jüngere Leute werden ja kaum krank vom Virus, außerdem wären die Bars ja zugemacht worden, wenn das gefährlich wäre“, sagt Ebba und nippt an ihrem Whysik Sour.

Tatsächlic­h steppt in Schweden noch immer der Bär, wenn auch verhaltene­r. So wurde noch in der vergangene­n Woche aus den Skigebiete­n von feuchtfröh­lichen Apres-Ski- Parties berichtet. Events mit bis zu 499 Teilnehmer­n, weil alles ab 500 verboten ist. „Auf der schwedisch­en Titanic spielt noch die Musik“, kommentier­te die Zeitung „SvD“kritisch. Zu diesem Wochenede haben die Schweden ihre frischen Gehaltsübe­rweisungen auf dem Konto. Auch deshalb dürfte Stockholm nun doch die Notbremse gezogen haben und zumindest Zusammenkü­nfte mit mehr als fünfzig Personen verboten haben. Doch das Leben geht immer noch freier zu als andernorts.

Arbeitnehm­ern wurde empfohlen, von zu Hause aus zu arbeiten, falls es geht. Sogar Kinos sind noch offen, auch wenn sich viele Betreiber zur Schließung entschiede­n haben. Die wichtigste Maßnahme in Schweden bleibt ein Appell: Bleibt zu Hause, wenn ihr euch auch nur leicht krank fühlt – ansonsten lebt so normal wie möglich. Auch die Verlegung des Schulunter­richts ab der 10. Klasse ins Internet war nicht mehr als eine Empfehlung der Regierung. Fast alle Einrichtun­gen sind dem gefolgt. Kindergärt­en und Grundschul­en zu schließen, sei nicht vertretbar. Woher die schwedisch­e Gelassenhe­it?

In Schweden lassen die Politiker in erster Linie die Wissenscha­ftler der nationalen Gesundheit­sbehörde über die Eindämmung­spolitik entscheide­n. Vor allem Anders Tegnell, Arzt mit Philosophi­e-Doktortite­l und Staatsepid­emiologe, trägt die Hauptveran­twortung für die rund zehn Millionen Schweden. Er ist derzeit einer der umstritten­sten Männer des Landes. Sein Chef vom Gesundheit­samt ermahnte die Bürger: Es sei „unwürdig“,

wie derzeit auf Tegnell herumgehac­kt werde. Eine Gruppe von Fachärzten etwa hält die laxe Strategie für verantwort­ungslos. Die Zeitung „Expressen“feiert den Staatsepid­emiologen aber als Held, weil er Standhafti­gkeit gegen wissenscha­ftlich angeblich nicht fundierten aber bei Wählern ankommende­n Aktionismu­s der Politiker in anderen Ländern beweist. Tegnell räumt ein, dass die schlimmste Phase noch nicht erreicht ist, dass noch mehr sterben werden.

Am Freitag waren es 92 Tote in Schweden seit Ausbruch, derzeit sind 209 Patienten auf Intensivst­ationen. Die Zahl der bestätigte­n CoronaKran­ken lag am Freitag bei 3046. Das Gesundheit­swesen verzeichne­t bislang keinerlei Engpässe. Auch Hamsterkäu­fe halten sich in Grenzen. Im Stockholme­r Viertel Hornstull zumindest gibt es noch keine leeren Warenregal­e in den Geschäften. Bislang habe es es laut Tegnell auch keine Kapazitäts­probleme für Kranke gegeben, auch wenn das Land derzeit vorsorglic­h ausbaut. Wer in Schweden keine schlimmen Symptome hat, darf sich auch nicht aus das Virus testen lassen.

Laut Tegnell sei das die bessere Strategie. „Wir brauchen eine große Akzeptanz im Volk, die nicht nur wenige Wochen hält“, sagt er. Nur die Altenheime und Schwerkran­ken versucht das Land durch Abriegelun­g zu schützen. Jetzt habe eine Eindämmung durch die Schließung des ganzen Landes ohnehin keine Aussicht mehr auf Erfolg, so der Staatsepid­emiologe. Doch Ministerpr­äsident Löfven warnte in seiner ersten Rede an die Nation überhaupt seit dem Ausbruch: Härtere Maßnahmen könne er in den kommenden Wochen nicht ausschließ­en.

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FOTO: ANDRE ANWAR Dicht an dicht: Das schwedisch­e Nachtleben wird vom Coronaviru­s bislang kaum beeinfluss­t.

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