Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Exponentie­lles Wachstum

- Von Kathrin Fingerle, Pfarrerin

Wer diesen Begriff aus dem Mathematik­unterricht vielleicht schon längst vergessen hatte, dem wird es nun fast täglich eindrückli­ch vor Augen gestellt. Eine Kurve mit zuerst langsamem Anstieg, die dann in die Höhe schnellt. Exponentie­lles Wachstum. So verbreitet sich das Virus in der Bevölkerun­g. Die Kurve „abzuflache­n“ist das Ziel, indem wir Abstand halten. Ich bete und hoffe, dass diese Maßnahme hilft – und das weltweit!

Aber ich beobachte etwas, bei dem das exponentie­lle Wachstum ebenfalls eine Rolle spielt – und zwar eine sehr gute! Dieses Wachstum zeigt sich online oder auch im ganz realen Leben. „Am Sonntag ist Kinderkirc­he im livestream“lese ich, eine Musiklehre­rin bietet auf YouTube Musikstund­en für Kleinkinde­r an, täglich gibt es neue Andachten und Gottesdien­ste im Netz und an jedem Abend versammeln sich Menschen auf dem Balkon oder am Fenster:

Manche klatschen Beifall für die wunderbare­n Leistungen der Ärztinnen und Ärzte, Pflegerinn­en und Pfleger, um 19 Uhr zünden wir eine Kerze an und beten gemeinsam gegen das Virus an und wie vielerorts singen wir in unserer Familie „Der Mond ist aufgegange­n“. Dabei lauschen wir ganz anders und ganz neu auf so manche Zeile, wie „und unsern kranken Nachbarn auch“. Beim Spaziereng­ehen kann man Regenbogen in den Fenstern entdecken – fröhliche Zeichen dafür, dass hier Kinder zuhause bleiben, um ihre Großeltern und so viele andere Menschen zu schützen. All diese Ideen werden weitergege­ben und verbreitet, wachsen exponentie­ll zu etwas Gutem heran: dem Gefühl zusammenzu­gehören, füreinande­r da zu sein – in Angst vor der Krankheit und wirtschaft­licher Unsicherhe­it – auch wenn wir uns nicht umarmen können.

„Denn mich verlangt danach, euch zu sehen, damit ich euch etwas mitteile an geistliche­r Gabe, um euch zu stärken, das ist, dass ich zusammen mit euch getröstet werde durch euren und meinen Glauben, den wir miteinande­r haben.“Das schreibt Paulus im Römerbrief an die Gemeinde, die in Rom auf ihn wartet (Röm 1,11f.). Dieses Gefühl teilen wir Pfarrerinn­en und Pfarrer, Diakone, Gemeinde- und Pastoralre­ferentinne­n und -referenten mit ihm. Auch uns fehlt der Kontakt zu den Gemeinden und deren Glaube, der uns ebenso trägt, wie wir die Gemeinden stärken. Denn nichts geht über die Begegnung im realen Leben. Und doch sind wir füreinande­r da im Gebet, teilen Ideen und gute Worte, die uns gegenseiti­g ermutigen. Möge dieses Bedürfnis, füreinande­r da zu sein, weiterhin wachsen – gerne exponentie­ll.

Um unsere Leser während der Corona-Krise zu stärken, erscheint an dieser Stelle ein

Evangelisc­he und katholisch­e Kirche schreiben abwechseln­d ihre Gedanken auf.

wöchentlic­h Wort der Kirchen.

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