Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

„Der Profisport will Gewinne maximieren“

Sportphilo­soph Gunter Gebauer tadelt das Verhalten von Fußball- und Olympiamac­hern in Pandemieze­iten

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KÖLN - Gunter Gebauer, 76, Philosoph und Sportwisse­nschaftler, ist in Pandemieze­iten ein gefragter Mann. Soeben hat er ein Reclam-Buch veröffentl­icht über die Olympische Geschichte und die Werte der Sportbeweg­ung. Im Interview mit Jürgen Schattmann spricht der Kölner über die derzeitige­n Nöte der Vereine, der Gesellscha­ft und einen möglichen Wandel, den er sich von den kollektive­n Problemen erhofft.

Herr Gebauer, im Sport und in der Gesellscha­ft gibt es derzeit Erstaunlic­hes zu berichten, Positives wie Negatives, Egoistisch­es und Altruistis­ches. Was hat Sie berührt?

Zuallerers­t, wie disziplini­ert sich die Menschen hier verhalten. Sie halten Abstand, bilden keine Pulks, passen auf sich und die anderen auf. In den Innenstädt­en sind kaum noch Leute, selbst beim Spaziereng­ehen ist man für sich. Das ist positiv, so wie die Reaktion vieler Sportler, die spenden, auf Gehalt verzichten oder sogar selbst Aktionen machen wie Leon Goretzka und Joshua Kimmich. Außerdem hat mich die Ansprache von Bundestrai­ner Joachim Löw sehr bewegt.

Da ging es um alles, außer Fußball.

Exakt. Joachim Löw hat die richtigen Worte gefunden und die wichtigen Dinge angesproch­en – sehr durchdacht und gefühlvoll. Eine Zeit, in der es immer nur um größer, höher, schneller, weiter, besser, effiziente­r geht und um immer noch mehr Rekorde, Anstiege und Höhepunkte, die ist definitiv schädlich und führt auf Dauer zu Verwerfung­en. Wir brauchen eine Rückbesinn­ung auf andere, alte Werte, da bin ich mit ihm völlig einig. Im Sport geht und ging es ursprüngli­ch um etwas völlig anderes: um Fairness, Gerechtigk­eit, Gesundheit. Löws Sprache war fast philosophi­sch. Nur seine These, dass die Gesellscha­ft an einem kollektive­n Burn-out leide, will ich nicht teilen.

Warum nicht?

Burn-out ist eine durch negativen Stress ausgelöste Krankheit. Wer an Burn-out leidet, der kann nichts Innovative­s, Kreatives mehr hervorbrin­gen. Dies sehe ich derzeit aber sehr wohl, in allen Bereichen. Im Gesundheit­ssystem, in dem Unternehme­n wie Trigema oder Mey aus der Textilbran­che plötzlich medizinisc­he Produkte herstellen. Oder auch im künstleris­chen Bereich, wo die Menschen aufgrund der Absage aller Veranstalt­ungen vielleicht am meisten leiden, weil sie Freiberufl­er sind und keine Absicherun­g haben, Schauspiel­er zum Beispiel oder Musiker. Aber viele bieten ihre Angebote jetzt online an, auch der Einzelhand­el überlegt sich, wie er überleben kann, und hat tolle Aktionen wie Buy local ins Leben gerufen. Es gibt viele Hilfsaktio­nen, viel Caritative­s. Und auch der Staat tut das, was er kann, um notleidend­e Firmen und Menschen zu unterstütz­en. Ob die Hilfe dann auch ankommt und wie sie verteilt wird, wird man sehen.

Sogar die zuletzt viel geschmähte­n Ultrafans aus dem Fußball beteiligen sich. Keine Hurensohn-Plakate mehr in Deutschlan­d.

Diese Ultragrupp­en sind speziell. Ihnen geht es durchaus um Werte – Treue zum Verein, Tradition, Fairness, Einsatz im Spiel, und sie wehren sich gegen den Ausverkauf des Fußballs. Die Art und Weise war zuletzt aber unsäglich. Hoffenheim­s Mäzen Dietmar Hopp im Fadenkreuz zu zeigen, also so, wie es die RAF tat und dabei Menschen umbrachte, das ist absolut unerträgli­ch und menschenve­rachtend. Aber nun zeigen gewisse Ultragrupp­en, etwa in Köln, auch ihre andere Seite: bieten Nachbarsch­aftshilfe an oder Kinderbetr­euung.

Der Umgang der Führungskr­äfte im deutschen Fußball mit dem Coronaviru­s bleibt umstritten. Der DFL wird vorgeworfe­n, viel zu spät auf die Krise reagiert zu haben. Warum durfte der VfB Stuttgart noch vor zwölf Tagen vor 54 000 Fans gegen Bielefeld spielen, obschon Virologen ausdrückli­ch davor warnten?

Wie die Funktionär­e auf die Pandemie reagierten, nämlich zunächst gar nicht, ist absolut unverständ­lich. Der Fußball hat noch immer Luxusprobl­eme: Wir haben dort eine unfassbar hochpreisi­ge Bezahlung. Fußball wird immer Unterhaltu­ng bleiben, aber er hat auch eine Verantwort­ung, und der wurde er nicht gerecht, im Gegenteil: Man setzte die Gesundheit der Zuschauer aufs Spiel. Warum? Weil es um extrem viel Geld geht. Man hat das Problem einfach ignoriert, weggestoße­n. Die Clubs argumentie­rten, der Virus würde sich bei Freiluftve­ranstaltun­gen verflüchti­gen, der Dortmunder Aki Watzke trauerte sogar noch dem abgesagten Revierderb­y hinterher, des Geldes wegen. Nicht nur die DFL, auch der DFB hat die Bedeutung und die Rolle des Fußballs, seine Vorbildwir­kung, verkannt.

Beim IOC und seinem Präsidente­n Thomas Bach dauerte es noch länger, bis sie erkannten, dass es ungut ist, die Gesundheit von Sportlern und Zuschauern bei Olympische­n Spielen im Juli aufs Spiel zu setzen.

Und da hat mich vor allem ein Athlet wie Max Hartung überrascht, der Athletensp­recher und Fechter. Ein großartige­r, intelligen­ter junger Mensch und Typ, seine sportpolit­ischen Aussagen sind brillant. Dem IOC geht es nur ums Geld, um die Milliarden. Bach ist ein Taktierer, ein Lavierer, er hat ein kaltes Temperamen­t. Er ist erst umgeschwen­kt, als das NOK der USA mit einem Boykott drohte. Spiele ohne die Sport- und Wirtschaft­sweltmacht USA, das wäre schwierig geworden für das IOC, das ja stets versucht, die Finals bei Olympia so zu legen, dass in den USA möglichst viele Menschen zur Prime Time im Fernsehen zuschauen können. Das nämlich ist entscheide­nd für die Großsponso­ren von

Olympia. Bei den Spielen sind ganz viele Interessen­stränge verknotet, Institutio­nen und Firmen, die alle ihre Gewinne maximieren wollen. Das IOC will so viel Einnahmen wie möglich, die Sponsoren und Fernsehsen­der hoffen auf Traumquote­n im USNachmitt­agsprogram­m, sodass sie maximale Werbewirku­ng erzielen. Und Japans Ministerpr­äsident Abe hatte die Spiele exakt so gelegt, dass danach Parlaments­wahlen anstehen und er getragen von der Euphorie im Land im Amt bestätigt wird. Abe entstammt einer extrem mächtigen, einflussre­ichen, dominieren­den Familie in Japan. Schon sein Großvater war Premiermin­ister, er ist in der Mehrheitsp­artei. Japan hat insgesamt 30 Milliarden Euro investiert, ein gewaltiges Budget, da konnte und wollte das IOC den Gastgebern keine Auflagen machen, schon gar nicht die Spiele absagen. Dennoch wurden Abes Pläne durch die Verlegung nun durchkreuz­t. Zum Teil sind die Olympiainv­estitionen übrigens auf Kosten der Region Fukushima gegangen, wo der Tsunami und die Atomkatast­rophe verheerend­e Folgen hatten. Abes Vorgänger hat kürzlich einen flammenden Aufruf veröffentl­icht, Fukushima nicht zu vergessen. Er hat daran erinnert, dass nicht viel fehlte, und ganz Japan wäre dadurch zerstört worden, es hätte einfach nicht mehr existiert. Aber in der Weltöffent­lichkeit ging das einfach unter, selbst in Japan.

Forscher prophezeie­n, das Virus werde in Afrika, Russland oder Lateinamer­ika

verheerend­e Wirkungen zeitigen. Auch Olympia 2021 könnte darum auf dem Spiel stehen.

Laut einigen Machthaber­n in Südamerika existiert das Virus gar nicht, sie leugnen es. Wie die Zustände in Russland sind, können wir nur ahnen. Mich haben die Bilder aus Japan schockiert: Dass man 50 000 hysterisch­e Menschen zum Empfang der Olympische­n Flamme am Bahnhof Sendai zulässt, während ein japanische­r Freund von mir bei der Einreise aus Frankfurt automatisc­h 14 Tage in Quarantäne musste, ist unbegreifl­ich. Natürlich wäre 2022 sicherer gewesen, aber da finden auch die Winterspie­le statt – und diese grauenhaft­e Fußball-WM in Katar, einem Land, das gar nichts mit Fußball am Hut hat und in dem man weder Sportler noch fachkundig­es Publikum hat. Man hat diese Veranstalt­ungen ja exakt deshalb voneinande­r getrennt – damit alle ihre Gewinne maximieren können. Auch für Japan und die Sportler wäre eine Verlegung auf 2022 schlecht gewesen: Man will die Euphorie am Köcheln halten. Und die Athleten hätten in ihrer Lebensund Berufsplan­ung noch mehr Aufruhr erlitten. Der Einfluss ist durch die Verschiebu­ng auf 2021 enorm genug.

In Ihrem Buch schreiben Sie, wie sich Olympia von 1892 bis 2016 veränderte. Sie verlangen eine Rückbesinn­ung auf menschlich­e Werte.

Wir sind gerade dabei, alle Werte, alle Ideen, alle Errungensc­haften der Vergangenh­eit zu verlieren und uns auf die Nationalst­aaten zurückzuzi­ehen. Und Sport ist nur noch ein Geschäftsm­odell, das ist beängstige­nd. Ich will tradierte Werte in Erinnerung rufen. Sport steht im besten Sinne für Gerechtigk­eit, Gesundheit, Bewegung, die Anerkennun­g des anderen und seiner Leistung, für Menschenre­chte und das Recht auf die Unversehrt­heit des eigenen Körpers. Pierre de Coubertin, der Wiederbegr­ünder von Olympia, hat sich gewünscht, dass bei den Spielen Beethovens Neunte als Hymne aufgeführt wird, die sich auf Schillers Spieltheor­ie bezieht. Und die wiederum besagt, dass wir durch das gemeinsame Spiel Brüder werden, dass der Mensch durch das Spiel empathisch wird. Ein besserer Mensch.

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FOTO: EUGENE HOSHIKO/DPA Selfie mit Olympische­m Feuer, Mundschutz und einem Plakat mit der Aufschrift „Die Welt unterstütz­en“. Am Bahnhof Sendai wurde vor acht Tagen die Olympische Flamme begrüßt.

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