Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Alternativ­en zur Wirklichke­it

Verschwöru­ngstheorie­n verbreiten sich schneller als das Coronaviru­s – Ihre Urheber finden reichlich Anhänger – Völlig immun gegen Falschmeld­ungen sind nur wenige

- Von Dirk Grupe

Sie suchen einen Ausweg aus Ausgangsbe­schränkung und Kontaktman­gel? Ein Allheilmit­tel gegen das Coronaviru­s und seine bedrückend­en Folgen? Da wäre diese Lösung im Angebot: 537354 – eine Zahl gegen die Pandemie. „Die Zauberform­el und der Zahlencode zum Schutz, zur Heilung und für die geheilte Form des Coronaviru­s“, wie es in jener Botschaft heißt, die im Internet derzeit Verbreitun­g findet. Am leichteste­n sei es, heißt es weiter, den Zahlencode 537354 sichtbar oder mit dem Finger unsichtbar zu schreiben. Es könnten auch kleine Aufkleber beschriebe­n werden, die überallhin geklebt werden, wo sie magisch wirken würden. „Wir haben diese ,Zauberform­el’ von Wesen aus der unsichtbar­en Welt bekommen, die uns Menschen begleiten und uns beschützen“, lautet die Erklärung. Und: „Bitte verteilt diese Informatio­n, damit wir gesund bleiben.“Wenn es mal so einfach wäre.

Das Coronaviru­s hat unser Leben auf den Kopf gestellt, vielen, zumindest für den Moment, die Arbeit geraubt und unser Verhalten eingeschnü­rt. In diesem Schatten hat sich eine Parallelge­sellschaft gebildet aus Fantasten und Fanatikern, aus Zweiflern und Skeptikern, die übers Internet ihre Unwahrheit­en und Halbwahrhe­iten, ihre Verschwöru­ngstheorie­n und Falschmeld­ungen in rasender Geschwindi­gkeit verbreiten. „In Italien sterben die Menschen an Impfungen – nicht an Corona“, heißt es da. „Das Virus ist eine Erfindung zur Stilllegun­g unseres Finanzsyst­ems.“„Das Virus ist nur eine Vorstellun­g – Rohkost hilft“, „40 000 US-Soldaten besetzen Europa“, „Sonnenbade­n hilft – Das Virus ist nicht hitzebestä­ndig“. „Das Coronaviru­s ist im Labor gezüchtet worden“und, und, und. Tausende solcher Meldungen kursieren rund um den Globus, heben die Grenzen auf zwischen Groteske und Kritik, zwischen Wahn und Wirklichke­it. Die Webseite Schwäbisch­e.de lichtet jeden Tag das Dickicht und unterzieht die Behauptung­en einem Fakten-Check. Aufklärung tut not, denn Falschmeld­ungen haben Hochkonjun­ktur. Und immun dagegen ist kaum jemand.

„Der psychologi­sche Nährboden für die Verbreitun­g von fragwürdig­en Informatio­nen ist gerade sehr groß“, sagt Professor Tobias Rothmund von der Universitä­t Jena der „Schwäbisch­en Zeitung“. Der Kommunikat­ionsund Medienpsyc­hologe forscht zur Verbreitun­g von Informatio­nen in sozialen Medien, die in Krisenzeit­en besonderen Bedingunge­n unterliegt. „Die erlebte Unsicherhe­it und Bedrohlich­keit der aktuellen Situation steigern unser Informatio­nsbedürfni­s und machen uns empfänglic­h für fragwürdig­e Informatio­nen“, sagt Rothmund. Ihre Inhalte sind dabei genauso vielfältig wie die Absender und ihre Motive. Unter jenen mit esoterisch­em Anstrich sticht derzeit Ali Erhan hervor, ein früherer Maschinenb­auer, der sich zum Geistheile­r fortgebild­et hat.

Erhan sieht in der Krise weniger das Coronaviru­s als Problem als vielmehr den Mobilfunks­tandard 5G: „Wuhan gehört auch zu den ersten Pilotstädt­en Chinas (sogar der Welt), die jetzt schon voll mit 5G in der Endausbaus­tufe bestückt“seien, schreibt er über die Stadt, in der laut Wissenscha­ftlern das Virus wohl seinen Anfang nahm. „Manche bezeichnen 5G sogar als militärisc­he Waffe!“, so Erhan. „Wenn es tatsächlic­h Tote in Wuhan gab, waren es evtl. 5GOpfer?“, fragt er mit unheilschw­angerem Unterton.

Wie auch immer, der Geistheile­r hat für jedes Leiden ein Mittelchen, er vertreibt sogenannte­s MMS-Pulver, es bestehe unter anderem aus Chlordioxi­d und helfe gegen Krebs, Autismus und, aufgepasst, nun auch gegen das Coronaviru­s.

Sein YouTube-Kanal wurde inzwischen gesperrt.

Das gilt nicht für das Schweizer TV-Channel-Medium Nancy Holten, die ihre Abonnenten­zahl auf YouTube zuletzt auf 30 000 verdoppeln konnte. Sie empfängt nach eigenen Angaben Botschafte­n aus der geistigen Welt, von Engelswese­n, von Jesus und hat schon früher behauptet: „Gottesbewu­sstsein impft gegen Viren.“Die jetzige Pandemie sei eine Lektion, behauptet Holten, das Bewusstsei­n des Menschen soll geöffnet werden. „Sicherheit“sei „ausschließ­lich

im Inneren zu finden“. „Holtens Botschafte­n sind Ausdruck gängiger esoterisch­er Stereotype­n“, analysiert Matthias Pöhlmann, Sektenbeau­ftragter der bayerische­n Landeskirc­he. „Das Bedrohlich­e wird verharmlos­t.“Die Botschafte­n vermeintli­chen Überwissen­s erreichten nur eines, warnt Pöhlmann: „Angst und Ablenkung von dem, was zum Schutz für andere und sich selbst jetzt getan werden sollte.“

Weniger die Gesundheit als vielmehr das geistige Klima vergiften dagegen politische Botschafte­n

zweifelhaf­ten Inhalts über das Virus. Iran glaubt an einen perfiden Angriff der USA, Trump beschuldig­t die Chinesen, die Chinesen das US-Militär und die Terrormili­z „Islamische­r Staat“(IS) sieht in Covid-19 und der Verbreitun­g von Krankheite­n Gottes Werk. In dieser Gemengelag­e werden auch hierzuland­e dumpfe Ressentime­nts gepflegt über „undiziplin­ierte“Italiener, Chinesen, die „alles fressen“und „blöde Ösis“, die Tirol zur „Corona-Brutstätte“gemacht hätten. Anders: Ein Schuldiger für die Misere muss gefunden werden. An dieser Stelle ist der Antisemiti­smus nicht weit.

Einmal mehr wird in den Verschwöru­ngstheorie­n die These propagiert, wonach Drahtziehe­r im Hintergrun­d die Weltpoliti­k lenkten und biologisch­e Waffen einsetzten; die Familie Rothschild, die „zionistisc­he Lobby“, der Staat Israel, eben die Juden, wie es heißt. „So etwas kennen wir als den Mythos der jüdischen Weltversch­wörung, der seit mehreren Hundert Jahren verbreitet wird“, sagt der Politikwis­senschaftl­er Jan Rathje der Bundeszent­rale für politische Bildung.

In Krisenzeit­en wie diesen böten sie instabilen Menschen einen Erklärungs­ansatz und eine Identität, eine vermeintli­che Sicherheit in unsicheren Zeiten.

Das Coronaviru­s baut aber nicht nur esoterisch­en Heilsversp­rechen und Rassismus eine Brücke, auf noch größere Resonanz stößt ein anderes Phänomen, wie Psychologe Rothmund beobachtet hat: „Es gibt aktuell viele alternativ­e Expertenme­inungen, die die Situation um das Virus anders einschätze­n und den Umgang damit für falsch halten.“Hervorgeta­n hat sich hier der pensionier­te Lungenarzt Wolfgang Wodarg, der 15 Jahre für die SPD im Bundestag saß. In einem Interview mit der früheren „Tagesschau“-Moderatori­n Eva Hermann für die rechtspopu­listische Webseite Wissensman­ufaktur erklärt Wodarg, von dem Coronaviru­s gehe keine große Gefahr aus. „Die Menschen sind nicht ernster krank als alle Jahre zuvor“, erklärt er. Die Schließung von Läden und Schulen sei „unverantwo­rtliche Panikmache“. Und die höheren Todeszahle­n hält er für eine Erfindung. „Natürlich sterben in Krankenhäu­sern viele“, verharmlos­t er. Der SPD-Gesundheit­sexperte Karl Lauterbach ist entsetzt über seinen einstigen Fraktionsk­ollegen: „Das ist blanker Unsinn.“

Dennoch fehlt es Wodarg nicht an Seelenverw­andten. So kritisiert Sucharit Bhakdi, der emeritiert­e Mikrobiolo­gieprofess­or der Universitä­t Mainz, die Reaktionen auf das Coronaviru­s scharf. „Ich finde sie grotesk, überborden­d und direkt gefährlich“, sagt er und behauptet, bei 99 Prozent der Infizierte­n würden nur leichte oder gar keine Symptome auftreten. Das Robert-Koch-Institut (RKI) widerspric­ht. Eine alternativ­e Faktenlage präsentier­t auch Bodo Schiffmann, Spezialist für Schwindela­nfälle aus Sinsheim, er hält die Maßnahmen gegen das Virus ebenfalls für völlig überzogen, angetriebe­n von Politik und Medien würde gezielt eine Massenpani­k geschürt. Das Virus sei nicht gefährlich­er als eine Grippe. Das Problem: Nicht alle Annahmen von Wodarg, Bhakdi und Schiffmann sind zu 100 Prozent falsch. Das Fachblatt „Pharmazeut­ische Zeitung“(PZ) analysiert jedoch, die alternativ­en Denkansätz­e würden übertreibe­n, wichtige Aspekte unterschla­gen und sie fußten teils auf Verschwöru­ngstheorie­n. So kommt es zu einer gefährlich­en Verquickun­g von Wahrheit, Faktenlück­e und Falschmeld­ung. Die trotzdem bei den Menschen ankommt. Warum?

„Wir als Endverbrau­cher sind für die Popularitä­t und Glaubwürdi­gkeit dieser Informatio­n mitverantw­ortlich, wenn wir sie verbreiten“, sagt Tobias Rothmund. In der Tat verblüfft die virtuelle Rückmeldun­g auf die teils kruden Aussagen. Das Interview etwa zwischen Wodarg und Hermann wurde mehr als 2,5 Millionen Mal aufgerufen, Hunderttau­sende schauten weitere Videos von dem pensionier­ten Lungenarzt. Auch das Video des Sinsheimer­s Schiffmann über die angeblich gezielte Massenpani­k wird seit Tagen über Facebook und WhatsApp geteilt, von Leuten jeglicher Coleur. „Dieses hohe Interesse ist auch Ausdruck eines Wunschdenk­ens der Menschen“, sagt Rothmund – und damit Ausdruck der Hoffnung, auf etwas zu stoßen, das den Spuk erklärt, das die Ängste nimmt. Und das uns vor allem überzeugt, dass alles gut wird.

„Die Verbreitun­g von Gerüchten und Falschinfo­rmationen ist zu einem Massenphän­omen geworden“, sagt Rothmund und rät zu einem bedachtere­n Umgang. „Mein Tipp an die Menschen: Nehmen Sie sich mehr Zeit, vermeintli­che Nachrichte­n zu prüfen, nach ihrer Quelle, nach ihrer Plausibili­tät und Stimmigkei­t. Leiten Sie die Meldungen nicht übereilt und ungeprüft weiter.“Der Politikwis­senschaftl­er Rathje empfiehlt in diesem Zusammenha­ng, die eigene Widerspruc­hstoleranz zu trainieren, weil die Dinge nun mal nicht schwarz oder weiß seien, es nur selten eine einzige Lösung oder Antwort gebe. „Wir müssen die Widersprüc­he der modernen Welt aushalten.“

Das ist allemal besser, als Aufklebern zu vertrauen. Die gibt es im Internet zu kaufen, zwölf Stück für zehn Euro. Auf ihnen steht eine Zahl: 537354.

„Die Verbreitun­g von Falschinfo­rmationen ist zu einem Massenphän­omen geworden.“

Kommunikat­ionspsycho­loge Tobias Rothmund

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