Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Alternativen zur Wirklichkeit
Verschwörungstheorien verbreiten sich schneller als das Coronavirus – Ihre Urheber finden reichlich Anhänger – Völlig immun gegen Falschmeldungen sind nur wenige
Sie suchen einen Ausweg aus Ausgangsbeschränkung und Kontaktmangel? Ein Allheilmittel gegen das Coronavirus und seine bedrückenden Folgen? Da wäre diese Lösung im Angebot: 537354 – eine Zahl gegen die Pandemie. „Die Zauberformel und der Zahlencode zum Schutz, zur Heilung und für die geheilte Form des Coronavirus“, wie es in jener Botschaft heißt, die im Internet derzeit Verbreitung findet. Am leichtesten sei es, heißt es weiter, den Zahlencode 537354 sichtbar oder mit dem Finger unsichtbar zu schreiben. Es könnten auch kleine Aufkleber beschrieben werden, die überallhin geklebt werden, wo sie magisch wirken würden. „Wir haben diese ,Zauberformel’ von Wesen aus der unsichtbaren Welt bekommen, die uns Menschen begleiten und uns beschützen“, lautet die Erklärung. Und: „Bitte verteilt diese Information, damit wir gesund bleiben.“Wenn es mal so einfach wäre.
Das Coronavirus hat unser Leben auf den Kopf gestellt, vielen, zumindest für den Moment, die Arbeit geraubt und unser Verhalten eingeschnürt. In diesem Schatten hat sich eine Parallelgesellschaft gebildet aus Fantasten und Fanatikern, aus Zweiflern und Skeptikern, die übers Internet ihre Unwahrheiten und Halbwahrheiten, ihre Verschwörungstheorien und Falschmeldungen in rasender Geschwindigkeit verbreiten. „In Italien sterben die Menschen an Impfungen – nicht an Corona“, heißt es da. „Das Virus ist eine Erfindung zur Stilllegung unseres Finanzsystems.“„Das Virus ist nur eine Vorstellung – Rohkost hilft“, „40 000 US-Soldaten besetzen Europa“, „Sonnenbaden hilft – Das Virus ist nicht hitzebeständig“. „Das Coronavirus ist im Labor gezüchtet worden“und, und, und. Tausende solcher Meldungen kursieren rund um den Globus, heben die Grenzen auf zwischen Groteske und Kritik, zwischen Wahn und Wirklichkeit. Die Webseite Schwäbische.de lichtet jeden Tag das Dickicht und unterzieht die Behauptungen einem Fakten-Check. Aufklärung tut not, denn Falschmeldungen haben Hochkonjunktur. Und immun dagegen ist kaum jemand.
„Der psychologische Nährboden für die Verbreitung von fragwürdigen Informationen ist gerade sehr groß“, sagt Professor Tobias Rothmund von der Universität Jena der „Schwäbischen Zeitung“. Der Kommunikationsund Medienpsychologe forscht zur Verbreitung von Informationen in sozialen Medien, die in Krisenzeiten besonderen Bedingungen unterliegt. „Die erlebte Unsicherheit und Bedrohlichkeit der aktuellen Situation steigern unser Informationsbedürfnis und machen uns empfänglich für fragwürdige Informationen“, sagt Rothmund. Ihre Inhalte sind dabei genauso vielfältig wie die Absender und ihre Motive. Unter jenen mit esoterischem Anstrich sticht derzeit Ali Erhan hervor, ein früherer Maschinenbauer, der sich zum Geistheiler fortgebildet hat.
Erhan sieht in der Krise weniger das Coronavirus als Problem als vielmehr den Mobilfunkstandard 5G: „Wuhan gehört auch zu den ersten Pilotstädten Chinas (sogar der Welt), die jetzt schon voll mit 5G in der Endausbaustufe bestückt“seien, schreibt er über die Stadt, in der laut Wissenschaftlern das Virus wohl seinen Anfang nahm. „Manche bezeichnen 5G sogar als militärische Waffe!“, so Erhan. „Wenn es tatsächlich Tote in Wuhan gab, waren es evtl. 5GOpfer?“, fragt er mit unheilschwangerem Unterton.
Wie auch immer, der Geistheiler hat für jedes Leiden ein Mittelchen, er vertreibt sogenanntes MMS-Pulver, es bestehe unter anderem aus Chlordioxid und helfe gegen Krebs, Autismus und, aufgepasst, nun auch gegen das Coronavirus.
Sein YouTube-Kanal wurde inzwischen gesperrt.
Das gilt nicht für das Schweizer TV-Channel-Medium Nancy Holten, die ihre Abonnentenzahl auf YouTube zuletzt auf 30 000 verdoppeln konnte. Sie empfängt nach eigenen Angaben Botschaften aus der geistigen Welt, von Engelswesen, von Jesus und hat schon früher behauptet: „Gottesbewusstsein impft gegen Viren.“Die jetzige Pandemie sei eine Lektion, behauptet Holten, das Bewusstsein des Menschen soll geöffnet werden. „Sicherheit“sei „ausschließlich
im Inneren zu finden“. „Holtens Botschaften sind Ausdruck gängiger esoterischer Stereotypen“, analysiert Matthias Pöhlmann, Sektenbeauftragter der bayerischen Landeskirche. „Das Bedrohliche wird verharmlost.“Die Botschaften vermeintlichen Überwissens erreichten nur eines, warnt Pöhlmann: „Angst und Ablenkung von dem, was zum Schutz für andere und sich selbst jetzt getan werden sollte.“
Weniger die Gesundheit als vielmehr das geistige Klima vergiften dagegen politische Botschaften
zweifelhaften Inhalts über das Virus. Iran glaubt an einen perfiden Angriff der USA, Trump beschuldigt die Chinesen, die Chinesen das US-Militär und die Terrormiliz „Islamischer Staat“(IS) sieht in Covid-19 und der Verbreitung von Krankheiten Gottes Werk. In dieser Gemengelage werden auch hierzulande dumpfe Ressentiments gepflegt über „undiziplinierte“Italiener, Chinesen, die „alles fressen“und „blöde Ösis“, die Tirol zur „Corona-Brutstätte“gemacht hätten. Anders: Ein Schuldiger für die Misere muss gefunden werden. An dieser Stelle ist der Antisemitismus nicht weit.
Einmal mehr wird in den Verschwörungstheorien die These propagiert, wonach Drahtzieher im Hintergrund die Weltpolitik lenkten und biologische Waffen einsetzten; die Familie Rothschild, die „zionistische Lobby“, der Staat Israel, eben die Juden, wie es heißt. „So etwas kennen wir als den Mythos der jüdischen Weltverschwörung, der seit mehreren Hundert Jahren verbreitet wird“, sagt der Politikwissenschaftler Jan Rathje der Bundeszentrale für politische Bildung.
In Krisenzeiten wie diesen böten sie instabilen Menschen einen Erklärungsansatz und eine Identität, eine vermeintliche Sicherheit in unsicheren Zeiten.
Das Coronavirus baut aber nicht nur esoterischen Heilsversprechen und Rassismus eine Brücke, auf noch größere Resonanz stößt ein anderes Phänomen, wie Psychologe Rothmund beobachtet hat: „Es gibt aktuell viele alternative Expertenmeinungen, die die Situation um das Virus anders einschätzen und den Umgang damit für falsch halten.“Hervorgetan hat sich hier der pensionierte Lungenarzt Wolfgang Wodarg, der 15 Jahre für die SPD im Bundestag saß. In einem Interview mit der früheren „Tagesschau“-Moderatorin Eva Hermann für die rechtspopulistische Webseite Wissensmanufaktur erklärt Wodarg, von dem Coronavirus gehe keine große Gefahr aus. „Die Menschen sind nicht ernster krank als alle Jahre zuvor“, erklärt er. Die Schließung von Läden und Schulen sei „unverantwortliche Panikmache“. Und die höheren Todeszahlen hält er für eine Erfindung. „Natürlich sterben in Krankenhäusern viele“, verharmlost er. Der SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach ist entsetzt über seinen einstigen Fraktionskollegen: „Das ist blanker Unsinn.“
Dennoch fehlt es Wodarg nicht an Seelenverwandten. So kritisiert Sucharit Bhakdi, der emeritierte Mikrobiologieprofessor der Universität Mainz, die Reaktionen auf das Coronavirus scharf. „Ich finde sie grotesk, überbordend und direkt gefährlich“, sagt er und behauptet, bei 99 Prozent der Infizierten würden nur leichte oder gar keine Symptome auftreten. Das Robert-Koch-Institut (RKI) widerspricht. Eine alternative Faktenlage präsentiert auch Bodo Schiffmann, Spezialist für Schwindelanfälle aus Sinsheim, er hält die Maßnahmen gegen das Virus ebenfalls für völlig überzogen, angetrieben von Politik und Medien würde gezielt eine Massenpanik geschürt. Das Virus sei nicht gefährlicher als eine Grippe. Das Problem: Nicht alle Annahmen von Wodarg, Bhakdi und Schiffmann sind zu 100 Prozent falsch. Das Fachblatt „Pharmazeutische Zeitung“(PZ) analysiert jedoch, die alternativen Denkansätze würden übertreiben, wichtige Aspekte unterschlagen und sie fußten teils auf Verschwörungstheorien. So kommt es zu einer gefährlichen Verquickung von Wahrheit, Faktenlücke und Falschmeldung. Die trotzdem bei den Menschen ankommt. Warum?
„Wir als Endverbraucher sind für die Popularität und Glaubwürdigkeit dieser Information mitverantwortlich, wenn wir sie verbreiten“, sagt Tobias Rothmund. In der Tat verblüfft die virtuelle Rückmeldung auf die teils kruden Aussagen. Das Interview etwa zwischen Wodarg und Hermann wurde mehr als 2,5 Millionen Mal aufgerufen, Hunderttausende schauten weitere Videos von dem pensionierten Lungenarzt. Auch das Video des Sinsheimers Schiffmann über die angeblich gezielte Massenpanik wird seit Tagen über Facebook und WhatsApp geteilt, von Leuten jeglicher Coleur. „Dieses hohe Interesse ist auch Ausdruck eines Wunschdenkens der Menschen“, sagt Rothmund – und damit Ausdruck der Hoffnung, auf etwas zu stoßen, das den Spuk erklärt, das die Ängste nimmt. Und das uns vor allem überzeugt, dass alles gut wird.
„Die Verbreitung von Gerüchten und Falschinformationen ist zu einem Massenphänomen geworden“, sagt Rothmund und rät zu einem bedachteren Umgang. „Mein Tipp an die Menschen: Nehmen Sie sich mehr Zeit, vermeintliche Nachrichten zu prüfen, nach ihrer Quelle, nach ihrer Plausibilität und Stimmigkeit. Leiten Sie die Meldungen nicht übereilt und ungeprüft weiter.“Der Politikwissenschaftler Rathje empfiehlt in diesem Zusammenhang, die eigene Widerspruchstoleranz zu trainieren, weil die Dinge nun mal nicht schwarz oder weiß seien, es nur selten eine einzige Lösung oder Antwort gebe. „Wir müssen die Widersprüche der modernen Welt aushalten.“
Das ist allemal besser, als Aufklebern zu vertrauen. Die gibt es im Internet zu kaufen, zwölf Stück für zehn Euro. Auf ihnen steht eine Zahl: 537354.
„Die Verbreitung von Falschinformationen ist zu einem Massenphänomen geworden.“
Kommunikationspsychologe Tobias Rothmund