Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Schüler plädieren für Pauschalabitur
Statt Abschlussprüfungen sollen die Noten der letzten beiden Schuljahre zählen
STUTTGART (kab) - Die Abiturprüfungen in Baden-Württemberg müssen abgesagt werden – das fordert eine Schülergruppe aus Freiburg in einem siebenseitigen Brief an die führenden Politiker im Land. Die gesundheitlichen Risiken und die psychische Belastung für die Abiturienten sei wegen der Corona-Pandemie zu groß. Stattdessen sollte aus den Leistungen der letzten beiden Schuljahren eine Durchschnittsnote errechnet werden. Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU) erteilte dem Anliegen eine Absage. Derzeit geht sie weiter davon aus, dass die Reifeprüfungen ab Mitte Mai für 30 000 Abiturienten an staatlichen und 17 000 weiteren an beruflichen Gymnasien beginnen können. Bei der Übermittlung der Prüfungsaufgaben geht das Kultusministerium dieses Jahr neue Wege.
STUTTGART - Können die Abi-Prüfungen in diesen Krisenzeiten stattfinden? Nein, betont eine Gruppe baden-württembergischer Abiturienten. In einem siebenseitigen Brief, unter anderem an Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) und Kultusministerin Susanne Eisenmann (CDU), fordern sie nun ein Umdenken.
Das Ansinnen ist nicht ganz neu: Zwei Abiturienten aus Hamburg haben bereits vor gut zwei Wochen eine Petition gestartet. Ihre Forderung nach einem Verzicht auf die finalen Prüfungen hatte bis Montagabend mehr als 137 000 Unterstützer – Unterzeichnen kann jeder, nicht nur Abiturienten. Der Gesundheitsschutz gehe vor, die psychische Belastung der Schüler in diesen Zeiten sei zu immens. Sie plädieren stattdessen für ein Durchschnittsabitur.
Das fordern nun auch vehement einige Schüler aus dem Südwesten. Nukleus des Protests ist die 13. Klasse der Angell-Akademie in Freiburg. Genauer: Larry Vorreiter und einige Mitstreiter. In ihrem Brief vom Sonntag plädieren auch sie für ein Durchschnittsabitur. Zählen sollen dafür die Leistungen, die die Schüler in den zwei Jahren bis zum Abitur gesammelt haben. Diese Bewertungen fließen ohnehin in die Abi-Note ein. Die Aktivisten schlagen vor, die fürs Abi relevanten Fächer besonders zu gewichten. Wer mit seinen bisherigen Leistungen nicht zufrieden ist, soll die Möglichkeit bekommen, freiwillig eine zusätzliche Prüfung abzulegen. Wie diese ablaufen soll, lassen sie offen.
„Durch die bundesweite Durchführung von Abschlussprüfungen wird [...] die Gesundheit der Menschen gefährdet“, heißt es in dem Brief, der mit „Zahlreiche Abiturienten aus Baden-Württemberg“unterzeichnet ist. „Wir möchten nicht, dass zwei Jahre harte Arbeit und Ausdauer aufgrund weitgreifender psychischer und gesundheitlicher Belastungen verschlechtert werden.“Unklar ist, wie viele Schüler hinter der Forderung stehen. „Es gibt viele Gruppen, die sich dafür einsetzen“, sagt Vorreiter. Vor allem in den sozialen Medien erfahre seine Gruppe viel Zuspruch.
„Ob das die Mehrheit ist, ist für mich unglaublich schwer einzuschätzen“, sagt Leandro Karst, Vorsitzender des Landesschülerbeirats. Mit den Initiatoren stehe er in engem Kontakt, teilt deren Forderung aber nicht. „Wir nehmen ihre Ängste auf und versuchen, diesen zu begegnen.“
Ministerin Eisenmann plant derweil weiterhin, dass die Prüfungen ab dem 18. Mai stattfinden. Darauf hatten sich die Kultusminister der Länder
Ende März verständigt. Das diene der Fairness und der gerechten Behandlung aller Schüler, so Eisenmann. In einigen Ländern ist das Abitur bereits abgeschlossen – etwa in Baden-Württembergs Nachbarland Rheinland-Pfalz. „Dennoch bereiten wir uns wie alle Länder auch auf unterschiedliche Szenarien vor, um auf alle Situationen entsprechend der
Lageentwicklung angemessen reagieren zu können“, so Eisenmann. Ob die Prüfungen angemessen waren, werde erst hinterher feststellbar sein, sagt der oberste Schülervertreter Karst. Notfalls müssten die Noten im Nachhinein angepasst werden, um eine Vergleichbarkeit herzustellen.
Dass nach den Osterferien wieder regulärer Unterricht für alle stattfindet, hatte die Ministerin bereits als unrealistisch bezeichnet. Ein Szenario könne aber sein, den Schulbetrieb wieder für diejenigen zu starten, die vor Abschlussprüfungen stehen. „Aber nicht direkt nach den Osterferien“, fordert Ralf Scholl, Vorsitzender des Philologenverbands, der die Gymnasiallehrer vertritt. Die Pandemie sei längst noch nicht im Griff, sagt er. „Es wäre sinnvoll, dass die Abiturienten ein bis zwei Wochen vorher Unterricht haben.“Das wäre ausreichend, „damit die Schüler ihre Aufregung etwas abkühlen können“.
Die Prüfungen ganz zu streichen lehnt Scholl ab. In einem Antwortbrief erklärt er den Initiatoren, die Belastung sei nicht unzumutbar, solange die Gesundheit aller Beteiligten nicht gefährdet werde. Das Abitur heiße auch Reifeprüfung. „Zur Reife gehört es aber auch, dass man mit Belastungssituationen klarkommt“, so Scholl.
Noch sei es zu früh, eine Entscheidung zu treffen, sagt Matthias Schneider, Geschäftsführer der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW). „Die Entscheidung über Abschlussprüfungen muss aus unserer Sicht nicht heute oder morgen getroffen werden.“Das gelte nicht nur fürs Abitur. Je nach Entwicklung müsse man nach den Osterferien die Lage bewerten und sich mit den anderen Bundesländern koordinieren, so Schneider. Klar sei dabei aber auch: „Der Gesundheitsschutz steht im Vordergrund.“