Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Von der Ferienhochburg zum Geisterdorf
Das Coronavirus trifft die Tourismusgebiete hart – Auch die Bodenseegemeinde Wasserburg leidet
- Kein Licht in den Hotels, niemand sitzt zum Dämmerschoppen in den Biergärten, tote Hose. Bloß einige Spaziergänger huschen während der milden Abendstunden alleine am kleinen Hafen des bayerischen BodenseeDorfes Wasserburg dahin, bringen vielleicht noch ein „Grüß Gott“über die Lippen. Zum Stundenschlag unterbrechen die Glocken der benachbarten St. Georgskirche geisterhaft die Stille.
Es ist wie in einem falschen Film – zumindest wenn einem die Erinnerung in den Sinn kommt, dass die Urlauberhochburg zur Osterzeit normalerweise überquillt vor Leben. Vorbei der Winter, passé die unliebsamen Nebeltage. Start in die Saison. Was ist aber schon normal, wenn das Coronavirus wütet? „Nichts“, meint Siegfried Weidinger, auf der Wasserburger Halbinsel Betriebsleiter von Schlosshotel und zugehörigem Restaurant. „Die Frühjahrssaison ist erledigt – und vielleicht auch vieles von der weiteren Saison.“
Die Corona-Krise beutelt die diversen Ferienregionen schwer – zumindest wirtschaftlich. Die 3800Seelen-Gemeinde Wasserburg ist ein Beispiel dafür. „Das geht nicht spurlos an uns vorüber“, warnt Bürgermeister Thomas Kleinschmidt in seinen letzten Amtstagen, nachdem er darauf verzichtet hat, sich bei den Kommunalwahlen im März nochmals zur Wahl zu stellen.
Das für Fremde so idyllisch daherkommende Wasserburg ist abseits des Tourismus wirtschaftlich mäßig aufgestellt: einige Handwerkerbetriebe, Obstbauern, das eine oder andere Altenheim. Nicht viel eben. Das bedeutet, die Gäste bringen höchst willkommenes Geld. Kleinschmidt verweist darauf, dass ohne sie nicht nur der Gastronomie Einnahmen fehlen: „Wegen mangelnder Gäste ebenso den Bäckern und sonstigen Geschäften. Der Gemeinde entgehen Gewerbesteuern, Fremdenverkehrsbeiträge und Kurtaxe.“Hinzu kommen noch die privaten Vermieter von Ferienwohnungen, ein beliebter Nebenverdienst von Wasserburgern, sofern sie über entsprechende Räumlichkeiten verfügen.
Sehr direkt erwischt Corona aber die Gastronomie-Betriebe. Um die 20 davon zählt Wasserburg – vom Kiosk über Gaststätten bis zu Hotels der oberen Klasse. Die allermeisten davon würden ohne Touristen nicht über die Runden kommen. So auch das Wasserburger Schloß. „Klar, dies ist das Hauptgeschäft“,
sagt Betriebsleiter Weidinger. Eigentlich müssten seine Zimmer gegenwärtig ausgebucht und die Seeterrasse vor den historischen Mauern der ehemaligen Adelsresidenz voll besetzt sein. Die gegenwärtig an die Kette gelegte Weiße Flotte würde weitere Ausflügler anlanden. Der April gilt hier touristisch als ebenso ertragsreich wie die Sommermonate. Zum Übernachten darf Weidinger aber laut der vorherrschenden Corona-Beschränkungen höchstens Geschäftsreisende aufnehmen. Das Lokal muss komplett geschlossen bleiben. Außer einigen Möwen verliert sich niemand dorthin. Ein trauriges Bild.
Ob das Schloss den ganzen Verdienstausfall aushält? Immerhin laufen Kosten weiter. „Wie es weitergeht“, betont Weidinger, „hängt von den Corona-Vorschriften und ihrer Dauer ab – und ob die Gäste schnell wiederkommen, wenn die Krise vorbei ist.“Anders ausgedrückt: Weidinger kann nicht kalkulieren, wie der Betrieb künftig dastehen wird – oder ob er sich letztlich überhaupt halten lässt. Sorgen, die fast über Nacht gekommen sind.
Noch in der ersten Märzhälfte war das ganze Ausmaß der Krise kaum einschätzbar – sieht man vielleicht mal von virologischen Fachkreisen ab. Üblicherweise rechnet Wasserburg im Jahr mit bis zu 55 000 Gästeankünften. Bei Übernachtungen liegen die Zahlen zwischen 200 000 bis 220 000. Das allermeiste betrifft die Saison von Frühjahr bis Mitte Oktober.
Wie viele Gäste letztlich wegfallen, will in Wasserburg wegen der ungewissen Entwicklung keiner abschätzen. Die Industrie- und Handelskammer Schwaben hat hingegen nach einer Umfrage im Allgäu und dem bayerischen Bodensee errechnet, dass die dortigen Hotels und Gaststätten heuer bei einer längeren Dauer der Krise einen Umsatzverlust von 1,2 Milliarden Euro erleiden würden. Das wäre eine Halbierung des sonstigen Jahresumsatzes.
Ähnlich wird für ganz Bayern kalkuliert. Im vergangenen Jahr hat der Tourismussektor mit seinen 600 000 Beschäftigten bei mehr als 100 Millionen Übernachtungen und 30 Milliarden Euro Umsatz gemacht. Aktuell würde es in der Branche als gut angesehen, wenn 15 Milliarden Euro zu Buche schlügen. Geht man auch in Baden-Württemberg von einer Halbierung aus, blieben dort zehn Milliarden Euro übrig.
Reine Umsatzverluste sind aber nur ein Aspekt. Die Industrie- und Handelskammer Bodensee-Oberschwaben macht auf einen weiteren heiklen Punkt aufmerksam: „Der Zeitpunkt der Schließung ist für die Hotellerie und Gastronomie insofern ungünstig, als das erste Quartal ohnehin zu den umsatzschwächsten Monaten im Jahr gehört und die Liquiditätslage deshalb angespannt ist“, erklärt Bernhard Nattmann, Referent für Handel, Dienstleistung und Tourismus.
Enrico Klann, unter anderem Betreiber des beliebten Wasserburger Lokals Hegestrand 3, drückt es drastischer aus: „In den Wintermonaten
ist keine Saison. Da legst du Geld drauf, das du dann ab Ostern wieder verdienen musst.“Zumal er seine Angestellten während der kalten Jahreszeit im Betrieb halte.
Gegenwärtig lässt Klann an einem Fenster des ansonsten vereinsamten Hegestrand 3 Eis zum Mitnehmen verkaufen. In Bayern lassen dies die dortigen CoronaRegeln zu. Schwer auf Sicherheitsabstand bedacht, stellen sich Leute an – eine überschaubare Menge.
Andere Wirte versuchen sich an einem rasch aufgezogenen Lieferservice für Essen: das Mittagsmahl frei Haus geliefert, Schnitzel mit Kartoffelsalat oder, der Klassiker, Pizza. Das Motto dabei: Dass wenigstens etwas geht – auch wenn es von Wirten eher als „Tropfen auf den heißen Stein“bezeichnet wird.
Andere Betriebe haben einfach weiter zu – komplett. Ein Infozettel an der Türe: „Wegen Corona bis auf Weiteres geschlossen.“Das war es. Es sind meist jene Hotels oder Gaststätten, die zum herbstlichen Saisonende ihr Personal entlassen, bis zum Frühjahr schließen und in normalen Zeiten ihre Leute dann wieder einstellen. Jetzt aber nicht. Kellner, Köche, Zimmermädchen – all die hilfsbereiten Geister – dürften das schwächste Glied in der Kette sein. Saisonkräfte wurden auf bessere Zeiten vertröstet und ans Arbeitsamt überwiesen. Köche haben Kurzarbeit. Glücklich ist, wer noch normal arbeiten darf.
Als Stammgast in einem der Biergärten fragt man sich, was beispielsweise aus dem „singenden Ober“geworden ist, einem Original aus Osteuropa, der gerne beim Bedienen Liedgut von sich gibt. Ein Kellner polnischer Nationalität, der sommers in Wasserburg und winters in Skigebieten ist, berichtet unter Zusicherung seiner Anonymität: „Vom Verdienst der vergangenen Monate kann ich mich und meine Familie erst einmal über Wasser halten. Aber dann muss dringend wieder Geld her.“
Naheliegend, dass die Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten höchst alarmiert ist. Sie appelliert an die Gastronomen, ihre Angestellten zu halten. Wenn wieder bessere Zeiten anbrechen würden, sei es ein klarer Vorteil, sofort den Betrieb wieder hochfahren zu können. Die als Dehoga bekannte Branchenvertretung Deutscher Hotel- und Gaststättenverband hat durchaus ähnliche Gedanken. Aber vorerst gehe es ums reine Überleben, meint Frank-Ulrich John, Geschäftsführer des bayerischen Landesverbands.
Um dies zu gewährleisten, forderte Fritz Engelhardt, Vorsitzender der baden-württembergischen Dehoga, einen bundesweiten Entschädigungsfonds speziell für Hotels und Wirtshäuser. Zudem wiederholt er einen alten Wunsch der Branche: eine Reduzierung des Mehrwertsteuersatz bei Speisen von 19 auf sieben Prozent. So könnten sich viele Betriebe nach der Krise berappeln.
Die Politik ist für den Moment jedoch noch mit den angekündigten Soforthilfen beschäftigt. Ein Sonderprogramm für Hotellerie und Gastronomie gibt es nicht. Die
Hilfen seien generell „branchenoffen“, verlautbart das baden-württembergische wie bayerische Wirtschaftsministerium. Es geht also unter anderem um die bekannten Stundungsmöglichkeiten etwa für die Pacht, um mögliche verbilligte und rasch zu bekommende Kredite, vereinfachte Kurzarbeitsanträge, die einmaligen, nicht rückzahlbaren Zuschüsse für kleinere Betriebe und Ähnliches.
Ob die Hilfen ihr Ziel auch erreichen, wird in Teilen der Gastronomie allerdings bezweifelt. Etwa von Klaus Peter Stadler. Er ist Inhaber der Weinstube Gierer und des erst jüngst weiter ausgebauten gleichnamigen Hotels, dem größten Übernachtungsbetrieb in Wasserburg, zwar etwas vom Ufer entfernt, aber dafür mit einem Blick auf das ganze Bergpanorama südlich und östlich des Bodensees. Nach seinen Worten hat Stadler monatlich Fixkosten von 250 000 bis 300 000 Euro. „Der angebotene Zuschuss liegt in meinen Fall wohl bei 40 000 Euro für drei Monate“, sagt Stadler. Damit komme er nicht weit.
Stundungen und Kredite hält der Hotelier für riskant. Nach seinen Erfahrungen hätte er bei Geldaufnahmen sieben bis acht Prozent Zinsen zahlen sollen. „Wer sich aber in dieser Krise einen Berg Schulden auflädt“, glaubt Stadler, „dürfte nach Corona schwer ins Schleudern kommen.“Gastronomie-Umsätze ließen sich nicht einfach für die nötigen Rückzahlungen steigern. Noch eine Klage hat der Mann, eine von Wirten und Hoteliers oft gehörte: „Von der Verdienstausfall-Versicherung werden wir komplett alleingelassen.“
Eigentlich sollen solche Policen bei Betriebsschließungen greifen. Das Problem: Nirgends steht das neue Coronavirus drin. „Wie auch, es ist ja neu“, sagt Stadler. Für Versicherungen bisher der Grund, vorerst nicht zu zahlen. Nachverhandlungen über den Branchenverband Dehoga sind im Gange. Stadler ist über den Erfolg skeptisch: „Jetzt schauen wir halt, wie es weitergeht. Nichts ist abschätzbar.“
Sicher ist gegenwärtig bloß eine weitgehende Leere. In normalen Zeiten unvorstellbar: Selbst Parkplätze lassen sich momentan auf der Wasserburger Halbinsel in großer Auswahl finden. Die Ausgangsbeschränkungen werden offenbar ernst genommen. Zumindest nach Augenschein. Sogar bei schönstem Spaziergangswetter ist die Promenade am Hafen so sporadisch besucht, als sei eine Seuche ausgebrochen. Aber dies ist ja auch der Fall.