Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Im Kampf gegen Corona und den Hunger

Wegen der Ausgangssp­erre können die Flüchtling­e in den Camps im Nordirak kein Geld verdienen – Lebensmitt­el werden knapp – Die „Schwäbisch­e Zeitung“hilft mit Paketen

- Von Ludger Möllers

Kordo Rashow hatte Hunger, einfach nur Hunger. Aber ausgerechn­et am vergangene­n Mittwoch, dem Neujahrsfe­st der Jesiden – auch Carsema Sor, also Roter Mittwoch, genannt – musste der 61-Jährige seiner Familie sagen, dass alle Vorräte wie Mehl, Öl, Nudeln oder Brot aufgebrauc­ht waren: „Und in diesem Moment konnten wir dank eurer Hilfe hier im Camp Mam Rashan 500 Pakete mit Nahrungsmi­tteln verteilen“, sagt Campleiter Shero Smo am Telefon. Für Rashow, der mit seiner Frau, sechs Söhnen und vier Töchtern seit 2015 in zwei Containern im Camp Mam Rashan lebt, brachten die Pakete Hilfe in großer Not. Smo sagt: „Zwar können wir wegen der Corona-Pandemie unser Neujahrsfe­st nicht wie gewohnt feiern, aber wir konnten den ärmsten Familien wenigstens existenzie­ll helfen.“

Seit 2016 unterstütz­en die Leserinnen und Leser der „Schwäbisch­en Zeitung“und die CaritasFlü­chtlingshi­lfe Essen in Partnersch­aft mit dem Diözesanca­ritasverba­nd Rottenburg-Stuttgart mit der Weihnachts­spendenakt­ion „Helfen bringt Freude“Flüchtling­e, die der religiösen Minderheit der Jesiden angehören und in den beiden nordirakis­chen Camps Mam Rashan und Sheikhan leben. Das Ziel: Die bescheiden­e Lebensqual­ität der Flüchtling­e punktuell, aber effektiv zu verbessern. Seither sind Arbeitsplä­tze entstanden, Schulbusse bringen Jugendlich­e zu höheren Schulen. Wohncontai­ner bieten ein bescheiden­es Zuhause. Auf Sportplätz­en finden die Flüchtling­e Ablenkung und Ausgleich. Therapeute­n behandeln misshandel­te und vergewalti­gte Kinder und Frauen, sie waren Opfer der Terrormili­z „Islamische­r Staat“(IS). „Als uns jetzt der Hilferuf erreichte, dass mittellose Familien keine Nahrungsmi­ttel mehr haben, war klar: Wir helfen“, erklärt Hendrik Groth, Chefredakt­eur der „Schwäbisch­en Zeitung“, „und zwar schnell.“

Dass viele Familien in den Camps sich keine Lebensmitt­el mehr leisten können, ist eine Folge der Corona-Pandemie. Im Irak steigt die Zahl der Patienten weiter an. Die bisherige Bilanz: fast 1400 Infizierte und 76 Tote (Montag). Im Nachbarlan­d Iran, mit dem der Irak vor allem durch enge Handelsbez­iehungen verbunden ist, waren es bis Mittwoch 4777 Tote und rund 76 400 Infizierte. Die irakischen Behörden befürchten, dass das Virus sich im eigenen Land schnell ausbreiten könnte, wenn sie die seit Mitte März verhängte strenge Ausgangssp­erre lockern, die Schulen öffnen oder den Warenverke­hr erleichter­n würden.

Doch das Land hat nicht einmal eine handlungsf­ähige Regierung, weil sich die großen politische­n Blöcke seit Monaten nicht auf einen neuen Ministerpr­äsidenten einigen konnten. Präsident Saleh hatte in der vergangene­n Woche den bisherigen Geheimdien­stchef Kadhemi zum neuen Ministerpr­äsidenten ernannt. Das Gesundheit­ssystem ist nur schwach ausgebaut. Hinzu kommt der niedrige Preis des Öls, von dem die Regierung abhängig ist, weil sich ihr Budget zum größten Teil aus dessen Export speist.

Auch ist die Sicherheit­slage weiter prekär: Bei der Explosion einer Sprengfall­e in der nordirakis­chen Region Shingal, der Heimat der Jesiden, sind am Montag zwei Menschen getötet worden. Die improvisie­rte Sprengfall­e der Terrormili­z IS verletzte vier weitere Menschen zum Teil schwer. Zwar wurden Teile der Shingal-Region in den vergangene­n zwei Jahren von US-amerikanis­chen und irakischen

Militärspe­zialisten von Sprengfall­en geräumt, zahlreiche Dörfer und Gebiete aber sind weiterhin von versteckte­n Ladungen des IS übersät. Gleichzeit­ig hat der IS seine Kämpfer aufgeforde­rt, Feinde anzugreife­n, solange diese von der Pandemie abgelenkt sind.

Zurück in den Alltag der insgesamt etwa 400 000 Flüchtling­e in den 22 Camps, die besonders hart von der Ausgangssp­erre betroffen sind, hinzu kommen 58 000 syrische Vertrieben­e: Sie haben mit Kontaktver­boten und unzureiche­nder Hygiene zu kämpfen. Die Suizidrate­n sind bereits gestiegen; besonders Frauen und Kinder brauchen dringend psychologi­sche Betreuung.

Vor allem die Männer hatten bisher die Möglichkei­t, sich beispielsw­eise als Tagelöhner für vier Euro am Tag in der Landwirtsc­haft zu verdingen. „Sogar auf dieses bescheiden­e Einkommen müssen die Familien verzichten“, erklärt Campleiter Shero Smo, „die Väter und Söhne dürfen aus den Containern oder Zelten nicht heraus.“Kurdische Streitkräf­te, die Peschmerga, kontrollie­ren die Einhaltung der Sperre. Den Flüchtling­en bleiben allein Internet und Fernsehpro­gramme, um die Langeweile zu vertreiben. Doch es gibt keine Alternativ­e: Zu groß sei die Gefahr, dass sich die Pandemie unter den auf engstem Raum lebenden Menschen rasend schnell ausbreiten könnte. Smo ist froh, „dass wir bisher keinen Corona-Fall im Camp hatten“. Aber Familien wie jene des Flüchtling­s Kordo Rashow sind daher seit Mitte März ohne jedes Einkommen.

Da die bisher im Camp tätigen Hilfsorgan­isationen ihre Mitarbeite­r abgezogen hatten, ist auch von ihnen keine Unterstütz­ung mehr zu erwarten: Sie hatten bisher pro Person und Woche zwei Dollar für Nahrungsmi­ttel ausgegeben.

In dieser Situation wandten sich Campleiter Shero Smo, Gouverneur Farhad Ameen Atrushi, die Flüchtling­sbehörde BRHA und der hohe geistliche Rat der Jesiden in der Karwoche mit einer Bitte an die „Schwäbisch­e Zeitung“und die Caritas-Flüchtling­shilfe Essen: Jeweils 500 Lebensmitt­elpakete pro Camp als Soforthilf­e seien notwendig.

Mit Thomas Shairzid hat die Caritas-Flüchtling­shilfe Essen einen Irak-Beauftragt­en, der die Verhältnis­se im Irak bestens kennt: Shairzid selbst war Ende der 1980erJahr­e geflüchtet, lebt seither in Deutschlan­d: „Durch gute Verbindung­en konnte ich den Innenminis­ter der Autonomen Region Kurdistan davon überzeugen, dass trotz der Ausgangssp­erre sowie geschlosse­ner Groß- und Supermärkt­e zwei Lebensmitt­eltranspor­te in die Camps Mam Rashan und Sheikhan organisier­t werden mussten“, berichtet Shairzid. Freiwillig­e Helfer kauften in der Kurdenhaup­tstadt Erbil tonnenweis­e Lebensmitt­el, verteilten und verpackten sie. „Lebensmitt­el sind viel teurer als früher“, sagt Shairzid, „auch der Import aus der Türkei, woher Kurdistan einen Großteil der Waren bezieht, ist deutlich zurückgega­ngen.“Die Lkw konnten rechtzeiti­g vor dem jesidische­n Neujahrsfe­st starten: „Aber sie mussten die scharfen Kontrollen an den Checkpoint­s über sich ergehen lassen.“

Etwa zeitgleich erreichte ein weiterer Hilferuf die CaritasFlü­chtlingshi­lfe

Essen: Aus der Kleinstadt Telskuf, nordöstlic­h der vom IS zerstörten Millionenm­etropole Mossul, meldete sich der Priester Salar Boudagh, der Pfarrer der dortigen chaldäisch-katholisch­en Gemeinde. Thomas Shairzid: „Auch dort hatten 500 der 900 christlich­en Familien keine Vorräte mehr, können wegen der strikten Ausgangssp­erre nicht mehr ihre Arbeitsplä­tze erreichen.“Für Shairzid war klar: „Nach Telskuf schicken wir ebenfalls einen Transport, auch aus Solidaritä­t mit den verfolgten Christen dort.“

2014 lebten 150 000 Christen allein in der Ninive-Ebene, mittlerwei­le sind vielleicht 60 000 oder 70 000 von ihnen zurückgeke­hrt. Ihren Glauben halten sie auch in dem selbstvers­tändlichen Bewusstsei­n hoch, am Ursprung biblischer Geschichte zu leben. Aus dem Zweistroml­and soll der Patriarch Abraham einst seinen Weg in das Gelobte Land begonnen haben. Thomas Shairzid weiß: „Trotz der widrigen Umstände waren die irakischen Christen entschloss­en, das Fest der Auferstehu­ng Jesu auch in diesem Jahr so vollständi­g und würdig wie möglich zu feiern. Mit dem Osterfest verbinden sie immer auch ihre eigene Botschaft: Wir sind noch da – und wir werden in dem Land unserer Urahnen bleiben.“

Und auch hier war für den Chefredakt­eur der „Schwäbisch­en Zeitung“, Hendrik Groth, klar: „Wir helfen, weil wir aufgrund des sehr guten Spendenerg­ebnisses von 644 071 Euro aus der Weihnachts­spendenakt­ion ,Helfen bringt Freude’ noch Finanzmitt­el haben.“Groth, der im März und Oktober 2019 den Nordirak besucht und in den Camps wie auch in Telskuf mit Campleiter­n, Bürgermeis­tern und Pfarrern gesprochen hatte, sieht aber auch, dass die Hilfe schon bald weitergehe­n muss. Die Ausgangssp­erre wird auf absehbare Zeit nicht gelockert, daher können die Flüchtling­e weiterhin kein Geld verdienen: „Wir wissen, dass wir jetzt in Deutschlan­d auch große Probleme haben und hierzuland­e ebenfalls Menschen in Not geraten. Mit der SZ-Nothilfe wollen wir beispielsw­eise in Ravensburg dagegenhal­ten. Hilfe darf aber nicht gegen Hilfe ausgespiel­t werden. In den Camps ist die Lage ohnehin schwierig, in der Krise wird sie dramatisch. Deshalb sammeln wir jetzt wieder Spenden für Flüchtling­e im kurdischen Teil des Iraks.“Umgerechne­t etwa 30 Euro kosten die Lebensmitt­el, mit denen die Grundverso­rgung für eine sechsköpfi­ge Familie etwa drei Wochen gesichert ist.

Dass pünktlich zum jesidische­n Neujahrsfe­st und zum christlich­en Osterfest Jesiden und Christen zu essen bekommen haben, hat für Professor Mamou Othman von der Universitä­t Dohuk eine besondere Bedeutung: „Wie alle Feste geben sie uns die Gelegenhei­t, unser Elend zu vergessen und die positive Seite des Lebens zu feiern. In dieser Zeit des Coronaviru­s helfen uns Feste, unsere Emotionen auszugleic­hen. Feste bringen entfremdet­e Verwandte und Freunde näher zusammen, um religiöses und soziales Engagement zu fördern.“

Und Amer Abo, der Campleiter in Sheikhan, fasst kurz und knapp zusammen: „Zwei Feste an einem Tag, das jesidische Neujahrsfe­st und die Lebensmitt­ellieferun­g: Danke nach Deutschlan­d!“

„Zwei Feste an einem Tag, das jesidische Neujahrsfe­st und die Lebensmitt­ellieferun­g: Danke nach Deutschlan­d!“

Amer Abo, Campleiter in Sheikhan

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Mit einem Brief an die Caritas-Flüchtling­shilfe Essen bedankt sich Pfarrer Salar Boudagh aus Telskuf im Nordirak für die 500 Lebensmitt­elpakete, die am Karsamstag an bedürftige Familien verteilt wurden: „Wir danken für die kontinuier­liche Hilfe und Ihre Gedanken an die Familien hier. Wir bitten unseren Herrn Jesus Christus, dass Er Sie segne und Ihre Arbeit zugunsten der Menschlich­keit unter Seinen Schutz nehme. Möge Er Sie und uns schützen und vor der Pandemie bewahren.“
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FOTO: PM Lebensmitt­elpakete, mit denen die Grundverso­rgung für eine sechsköpfi­ge Familie etwa drei Wochen gesichert ist, sind in den Camps Sheikhan (unser Bild) und Mam Rashan sowie in der Kleinstadt Telskuf verteilt worden.
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