Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Verschont uns!

Warum auf die erzwungene Kunstpause eine freiwillig­e folgen sollte

- Von Martin Oswald

Es lässt sich erahnen, was auf uns zukommt, wenn Museen und Galerien erst einmal wieder geöffnet haben: Coronakuns­t. Warum auch sollten die Künstler schweigen, wenn es selbst Philosophe­n und solchen, die sich dazu berufen fühlen, nicht gelingt. Etwa der Entschleun­igungssozi­ologe Hartmut Rosa, der so schnell wie kein anderer zum gefragten Lebensbera­ter avancierte und nun, dank zahlreiche­r Interviews, im breiten Volk der Corona-Denker und -Dichter als Koryphäe gilt. Er empfiehlt zur Beruhigung der erregten Seelen schöne „Resonanzer­fahrungen“, was sonst.

Auch andere, längst vergessene Lockdownph­ilosophen melden sich zu Wort. Wilhelm Schmid beispielsw­eise verrät seine jüngste Erkenntnis: „Die ganze Welt ist eine Schicksals­gemeinscha­ft“. Das war uns bisher nicht bewusst. Was jetzt bevorsteht, ist Kunst. Große Kunst. Wo ist eigentlich Ai Wei Wei? Bekommen wir bald neue Selfies aus der Klinik? Womöglich erwarten uns Installati­onen mit Atemmasken oder Fußballsta­dien voller Krankenbet­ten. Aber die gibt es schon, ganz real.

Manchmal kommt die wahre Welt der Kunst zuvor. Andere lassen sich noch etwas Zeit, die Konzepte sollen schließlic­h reifen, kunstmarkt­tauglich sein. Viral.

Aussagen wie die von Karlheinz Stockhause­n, des Komponiste­n, der im Anschlag auf die Twin Towers einst ein erhabenes Kunstwerk sah, würden das Publikum vergraulen. Immerhin ist New York auch diesmal stark betroffen. Richtig.

Niederschw­ellige Betroffenh­eitskunst erwartet die Welt. Auch aus der künstleris­chen Provinz. Vor allem von dort. Irgendeine­r wird sich immer finden, in jedem Land, der dort am Schluss die Opfer zählt und ihnen eine Serie von Werken widmet. An den „Thousands of New York Victims“, immerhin mehr als beim Fanal von Nine Eleven, arbeitet bald ein Künstlerko­llektiv. Vielleicht im Schwäbisch­en, denn New York klingt allemal attraktive­r als Neuravensb­urg oder Neuwied. Abgesehen davon, dass man dort kaum von Serie sprechen könnte.

Die ganz großen Künstler lassen arbeiten. Vielleicht in China, das hilft den Überlebend­en. Jeff Koons wird eine überdimens­ionierte Hochglanzp­lastik des stilisiert­en Virus liefern. Jeweils monochrom, in den Leitfarben der betroffene­n Kultur, etwa metallicgr­ün für islamische Nationen, die Goldversio­n für Trump, als Dank für seine schnelle Reaktion.

Andere arbeiten partizipat­iv. Der nachtdunkl­e Kunstraum, in den sie uns führen, wird beschallt von Stimmen aus Wartesälen der Spitäler. Das Stimmengew­irr globaler Not. Im Projekt „Triage“dürfen wir selbst entscheide­n, wer durchkommt.

Vorher füllen wir brav einen Bogen aus mit Angaben zu unseren Vorerkrank­ungen. Kunst kann gnadenlos sein. Ein anderer sammelt letzte Sätze und stellt sie aus. Die Typografie ist gewählt, folgt kulturelle­n Traditione­n. Auf der documenta erwartet uns als externer Spielort ein leergestor­benes Altenheim in Kassel, die Räume so hinterlass­en wie damals, direkt nach dem Weggang der Bewohner. Manchen Künstlern sind solche direkten Verweise zu banal, sie lieben komplexere Erwägungen. Irgendwo situiert zwischen Wissenscha­ft und Kunst, reflektier­en sie, wie es im Begleittex­t heißen wird, „die gesellscha­ftspolitis­chen Fragen unserer Zeit, etwa in Form großer Reagenzglä­ser, in denen Marmorplas­tiken von Algen zerfressen werden, die dann als Neurotrans­mitter dysfunktio­nale Stoffe generieren, sogenannte PANDEMINE, und so Moleküle produziere­n, die den Menschen gegen sich selbst immunisier­en“. Das ist auch bitter nötig. Bleibt noch eine Bitte: Verschont uns. Vor solcher Kunst.

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