Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Verschont uns!
Warum auf die erzwungene Kunstpause eine freiwillige folgen sollte
Es lässt sich erahnen, was auf uns zukommt, wenn Museen und Galerien erst einmal wieder geöffnet haben: Coronakunst. Warum auch sollten die Künstler schweigen, wenn es selbst Philosophen und solchen, die sich dazu berufen fühlen, nicht gelingt. Etwa der Entschleunigungssoziologe Hartmut Rosa, der so schnell wie kein anderer zum gefragten Lebensberater avancierte und nun, dank zahlreicher Interviews, im breiten Volk der Corona-Denker und -Dichter als Koryphäe gilt. Er empfiehlt zur Beruhigung der erregten Seelen schöne „Resonanzerfahrungen“, was sonst.
Auch andere, längst vergessene Lockdownphilosophen melden sich zu Wort. Wilhelm Schmid beispielsweise verrät seine jüngste Erkenntnis: „Die ganze Welt ist eine Schicksalsgemeinschaft“. Das war uns bisher nicht bewusst. Was jetzt bevorsteht, ist Kunst. Große Kunst. Wo ist eigentlich Ai Wei Wei? Bekommen wir bald neue Selfies aus der Klinik? Womöglich erwarten uns Installationen mit Atemmasken oder Fußballstadien voller Krankenbetten. Aber die gibt es schon, ganz real.
Manchmal kommt die wahre Welt der Kunst zuvor. Andere lassen sich noch etwas Zeit, die Konzepte sollen schließlich reifen, kunstmarkttauglich sein. Viral.
Aussagen wie die von Karlheinz Stockhausen, des Komponisten, der im Anschlag auf die Twin Towers einst ein erhabenes Kunstwerk sah, würden das Publikum vergraulen. Immerhin ist New York auch diesmal stark betroffen. Richtig.
Niederschwellige Betroffenheitskunst erwartet die Welt. Auch aus der künstlerischen Provinz. Vor allem von dort. Irgendeiner wird sich immer finden, in jedem Land, der dort am Schluss die Opfer zählt und ihnen eine Serie von Werken widmet. An den „Thousands of New York Victims“, immerhin mehr als beim Fanal von Nine Eleven, arbeitet bald ein Künstlerkollektiv. Vielleicht im Schwäbischen, denn New York klingt allemal attraktiver als Neuravensburg oder Neuwied. Abgesehen davon, dass man dort kaum von Serie sprechen könnte.
Die ganz großen Künstler lassen arbeiten. Vielleicht in China, das hilft den Überlebenden. Jeff Koons wird eine überdimensionierte Hochglanzplastik des stilisierten Virus liefern. Jeweils monochrom, in den Leitfarben der betroffenen Kultur, etwa metallicgrün für islamische Nationen, die Goldversion für Trump, als Dank für seine schnelle Reaktion.
Andere arbeiten partizipativ. Der nachtdunkle Kunstraum, in den sie uns führen, wird beschallt von Stimmen aus Wartesälen der Spitäler. Das Stimmengewirr globaler Not. Im Projekt „Triage“dürfen wir selbst entscheiden, wer durchkommt.
Vorher füllen wir brav einen Bogen aus mit Angaben zu unseren Vorerkrankungen. Kunst kann gnadenlos sein. Ein anderer sammelt letzte Sätze und stellt sie aus. Die Typografie ist gewählt, folgt kulturellen Traditionen. Auf der documenta erwartet uns als externer Spielort ein leergestorbenes Altenheim in Kassel, die Räume so hinterlassen wie damals, direkt nach dem Weggang der Bewohner. Manchen Künstlern sind solche direkten Verweise zu banal, sie lieben komplexere Erwägungen. Irgendwo situiert zwischen Wissenschaft und Kunst, reflektieren sie, wie es im Begleittext heißen wird, „die gesellschaftspolitischen Fragen unserer Zeit, etwa in Form großer Reagenzgläser, in denen Marmorplastiken von Algen zerfressen werden, die dann als Neurotransmitter dysfunktionale Stoffe generieren, sogenannte PANDEMINE, und so Moleküle produzieren, die den Menschen gegen sich selbst immunisieren“. Das ist auch bitter nötig. Bleibt noch eine Bitte: Verschont uns. Vor solcher Kunst.