Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Neugeboren werden

- Von Dorothee Sauer, Co-Dekanin und Pfarrerin

Der erste Sonntag nach Ostern hat eine feste Bedeutung in der altkirchli­chen Tauftradit­ion. Evangelisc­h heißt er „Quasimodog­eniti – wie die neugeboren­en Kindlein“. An diesem Tag legten neugetauft­e Christinne­n und Christen die weißen Kleider wieder ab, die sie seit der Osternacht getragen hatten. Auch der katholisch­e Name „Weißer Sonntag“weist auf diesen Brauch hin.

Neugeboren werden an Ostern, das ist ein Neuanfang. Doch was heißt das in diesen Tagen? Noch sind wir mitten in der Krise. Sie ist noch lange nicht zu Ende. Erste vorsichtig­e Lockerunge­n werden diskutiert und sollen bald umgesetzt werden. Die persönlich­en Schäden und wirtschaft­lichen Verluste sind noch lange nicht abzusehen. Eigentlich ist es noch viel zu früh, um zu fragen, was aus dieser Krise Neues, geschweige denn Gutes, entstehen könnte. Und doch fragen sich das viele. Die stillen, kontaktred­uzierten Tage über Ostern haben manchen nach Innen geführt.

Ins Nachdenken, zu einem bewusstere­n Umgang mit sich und der

Natur, mit den Menschen, die man jetzt noch nah bei sich hat, und mit denen, die fern sind. Wie kommt man aus einer Krise heraus und wie verändert sie einen? Wie sieht „Auferstehu­ng aus dem Tod“aus? Sicher nicht so, dass einfach wieder der Alltag beginnt, dass es so weitergeht wie davor. Auferstehu­ng ist Neuschöpfu­ng, nicht Wiederhers­tellen des Alten.

Die neugetauft­en, neugeboren­en Christen bekamen an Ostern ein neues Leben geschenkt. Das alte Leben ist vergangen. Eine Freude ist das freilich nur dann, wenn das Neue besser ist als das Alte.

Die meisten von uns sind in einer Welt groß geworden, in der beinahe alles machbar erschien. Das Unverfügba­re gab es nicht. Dass man einer Situation ausgeliefe­rt ist, die man nicht so einfach beherrsche­n kann, die größer und mächtiger ist als man selbst mit aller Technologi­e und allem Wissen, ist neu. Die Älteren unter uns sind an dieser Stelle die Weiseren. Sie haben einen Krieg miterlebt und wissen davon zu erzählen, wie das ist, ausgeliefe­rt zu sein, hilflos. Aber auch, dass aus der Krise Neues entstehen kann.

Ein Säugling, ein neugeboren­es Kind, hat auch nichts im Griff. Gar nichts, es ist darauf angewiesen, gehalten, getragen und versorgt zu werden. Das neugeboren­e Kindlein ist mir ein Sinnbild für uns Menschen in dieser Krise. Wie wäre es, wenn wir aus dieser Krise neugeboren hervorging­en, mit neuen Einsichten, vielleicht auch mit neuem Glauben: Gehalten und getragen von Gott, geläutert, gereinigt, geerdet und entschleun­igt. Bewusster und ernster geworden, aber vielleicht gerade deswegen auch fröhlicher und dankbarer für alles Gute, das wir erleben.

Wir werden noch viel Geduld, viel Kraft und viele kreative Ideen brauchen. Wir haben noch viel Gelegenhei­t, uns einzuüben in Vertrauen in Gott und in Glaube, der sich bewähren muss. Es wird Tage geben, da verzweifel­n wir. Aber es wird auch Tage geben, da fassen wir neuen Mut. Auferstehu­ng ist Neuschöpfu­ng, ist Zukunft, auch wenn das Neugeboren­werden schwer war und ein langer Kampf.

Ich wünsche uns, dass wir daraus Hoffnung schöpfen und dass das Neue besser sein möge als das Alte.

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