Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Neugeboren werden
Der erste Sonntag nach Ostern hat eine feste Bedeutung in der altkirchlichen Tauftradition. Evangelisch heißt er „Quasimodogeniti – wie die neugeborenen Kindlein“. An diesem Tag legten neugetaufte Christinnen und Christen die weißen Kleider wieder ab, die sie seit der Osternacht getragen hatten. Auch der katholische Name „Weißer Sonntag“weist auf diesen Brauch hin.
Neugeboren werden an Ostern, das ist ein Neuanfang. Doch was heißt das in diesen Tagen? Noch sind wir mitten in der Krise. Sie ist noch lange nicht zu Ende. Erste vorsichtige Lockerungen werden diskutiert und sollen bald umgesetzt werden. Die persönlichen Schäden und wirtschaftlichen Verluste sind noch lange nicht abzusehen. Eigentlich ist es noch viel zu früh, um zu fragen, was aus dieser Krise Neues, geschweige denn Gutes, entstehen könnte. Und doch fragen sich das viele. Die stillen, kontaktreduzierten Tage über Ostern haben manchen nach Innen geführt.
Ins Nachdenken, zu einem bewussteren Umgang mit sich und der
Natur, mit den Menschen, die man jetzt noch nah bei sich hat, und mit denen, die fern sind. Wie kommt man aus einer Krise heraus und wie verändert sie einen? Wie sieht „Auferstehung aus dem Tod“aus? Sicher nicht so, dass einfach wieder der Alltag beginnt, dass es so weitergeht wie davor. Auferstehung ist Neuschöpfung, nicht Wiederherstellen des Alten.
Die neugetauften, neugeborenen Christen bekamen an Ostern ein neues Leben geschenkt. Das alte Leben ist vergangen. Eine Freude ist das freilich nur dann, wenn das Neue besser ist als das Alte.
Die meisten von uns sind in einer Welt groß geworden, in der beinahe alles machbar erschien. Das Unverfügbare gab es nicht. Dass man einer Situation ausgeliefert ist, die man nicht so einfach beherrschen kann, die größer und mächtiger ist als man selbst mit aller Technologie und allem Wissen, ist neu. Die Älteren unter uns sind an dieser Stelle die Weiseren. Sie haben einen Krieg miterlebt und wissen davon zu erzählen, wie das ist, ausgeliefert zu sein, hilflos. Aber auch, dass aus der Krise Neues entstehen kann.
Ein Säugling, ein neugeborenes Kind, hat auch nichts im Griff. Gar nichts, es ist darauf angewiesen, gehalten, getragen und versorgt zu werden. Das neugeborene Kindlein ist mir ein Sinnbild für uns Menschen in dieser Krise. Wie wäre es, wenn wir aus dieser Krise neugeboren hervorgingen, mit neuen Einsichten, vielleicht auch mit neuem Glauben: Gehalten und getragen von Gott, geläutert, gereinigt, geerdet und entschleunigt. Bewusster und ernster geworden, aber vielleicht gerade deswegen auch fröhlicher und dankbarer für alles Gute, das wir erleben.
Wir werden noch viel Geduld, viel Kraft und viele kreative Ideen brauchen. Wir haben noch viel Gelegenheit, uns einzuüben in Vertrauen in Gott und in Glaube, der sich bewähren muss. Es wird Tage geben, da verzweifeln wir. Aber es wird auch Tage geben, da fassen wir neuen Mut. Auferstehung ist Neuschöpfung, ist Zukunft, auch wenn das Neugeborenwerden schwer war und ein langer Kampf.
Ich wünsche uns, dass wir daraus Hoffnung schöpfen und dass das Neue besser sein möge als das Alte.