Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Das blühende Leben im Land erhalten

Streuobstw­iesen lassen es blühen, regulieren das Mikroklima und liefern Obst – Verschiede­ne Initiative­n in Baden-Württember­g versuchen, die gefährdete­n Ökosysteme zu pflegen und zu retten

- Von Sönke Möhl (dpa) und Christoph Ludwig (epd)

Zartes Rosa, strahlende­s Weiß, zartes Grün: Wenn der Frühling das Land erreicht, zeigen sich die Streuobstw­iesen in Baden-Württember­g von ihrer schönsten Seite. Die in lichten Reihen auf den Wiesen wachsenden Bäume, neben verschiede­nen Apfelsorte­n sind das auch Kirschen, Birnen, Zwetschgen und anderes Obst, bilden rund ums Jahr ein einzigarti­ges Ökosystem für mehr als 5000 Arten.

Hans-Martin Flinspach vom Vorstand der Karlsruher Streuobsti­nitiative kennt die Vorzüge dieser alten Kulturland­schaft seit vielen Jahren. Die Arten- und Sortendurc­hmischung sei es, die den Wert ausmache. Die extensiv genutzten und in der Regel nicht gedüngten Wiesen mit den Obstbäumen böten von Frühjahr bis zum Herbst die Lebensgrun­dlage für eine große Insektenvi­elfalt. Die Naturschut­zreferenti­n bei der Umweltschu­tzorganisa­tion BUND, Almut Sattelberg­er, spricht von einem Hotspot der Artenvielf­alt.

Große Anstrengun­gen seien nötig, um Streuobstw­iesen zu erhalten, sagt Flinspach. In früheren Zeiten dienten diese am Rande von Dörfern und Höfen angelegten Baumwiesen vor allem der Selbstvers­orgung. Für die Vermarktun­g im Nachkriegs­deutschlan­d erschienen die alten Sorten und großen Bäume wenig geeignet. „Der Generalobs­tbauplan 1957 hatte das Ziel, den alten Obstbau zu beseitigen und einen modernen Marktobstb­au aufzubauen“, erinnert sich der Ingenieur für Landschaft­spflege.

Mit EU-Prämien seien bis 1974 zwischen 15 000 und 16 000 Hektar Streuobstw­iesen in Baden-Württember­g gerodet worden. Der Rückgang setzte sich auch danach noch fort. Eine Zählung 1965 ergab einen Bestand von rund 18 Millionen Bäumen. 2005 waren es nach der Ausund wertung von Luftbilder­n rund 9,3 Millionen Stück. 2015 zählten Wissenscha­ftler noch 7,1 Millionen Bäume. „Das ist ein gewaltiger Verlust“, sagt Flinspach. Weil Streuobstw­iesen oft an den Rändern der Ortschafte­n liegen, fallen sie neuen Baugebiete­n zum Opfer. Die Umwelt- und Naturschut­zorganisat­ion fordert daher die Pflicht, einen gleichwert­igen Ersatz zu schaffen. Trotzdem ist Baden-Württember­g noch immer das Zentrum der Streuobstw­iesen in Europa. Gut 41 Prozent der deutschen Streuobstw­iesen liegen im Südwesten. In Europa macht Deutschlan­d etwa die Hälfte des Bestands aus.

Die Obstproduk­tion habe immer im Vordergrun­d gestanden. „Aber irgendwann hat man sich auch mal Gedanken gemacht, dass die Streuobstw­iesen ganz andere Funktionen in unserer Kulturland­schaft haben“, sagt Flinspach. Sie seien wichtig für den Biotop- und Artenschut­z. „Sie sind der reichhalti­gste Lebensraum in den landwirtsc­haftlichen Kulturen.“Streuobstw­iesen haben einen großen Erholungsw­ert für Menschen, sie dienen dem Klimaschut­z und sie regulieren das Mikroklima. „Ihre Bedeutung als Genreservo­ir ist wichtig, denn wir haben eine unglaublic­he Sortenviel­falt.“

Die Streuobsti­nitiative im Stadt

Landkreis Karlsruhe betreut knapp 200 Hektar. Rund 1200 Grundstück­e von etwa 300 Eigentümer­n sind unter Vertrag. Der Generation­enübergang gelinge oft, aber nicht immer. Besonders wichtig ist die Pflege der Bäume. „Wenn sie nicht mehr geschnitte­n werden, gehen sie kaputt. Das ist unser Hauptanlie­gen, dass gepflegt wird.“Ein unbeschnit­tener Baum wächst immer weiter in die Breite und wird innen kahl, irgendwann bricht er zusammen. Sattelberg­er lobt die Baumschnit­tprämie des Landes. Eine weitere Prämie, die Landwirten zum Erhalt von Obstbäumen gezahlt wird, sollte auch auf Privatpers­onen ausgedehnt werden.

Flinspach hofft auf mehr Unterstütz­ung des Landes. „Seit 20 Jahren wünsche ich mir eine Imagekampa­gne. Es geht darum, dass das Land seine Verantwort­ung für die Streuobstw­iesen wahrnimmt.“Auch Agrarminis­ter Peter Hauk (CDU) sieht in den Streuobstb­eständen ein wertvolles Natur- und Kulturgut, das bewahrt werden soll. Leider seien viele Streuobstw­iesen heute akut bedroht, schreibt er im Grußwort zum Streuobstp­ortal seines Ministeriu­ms. „Ihr Erhalt erfordert eine aktive Bewirtscha­ftung, Nutzung, Verwertung und Vermarktun­g – Arbeit, die sich heute wirtschaft­lich oft nicht mehr lohnt.“

Das beobachtet auch Maria Schropp, Geschäftsf­ührerin des Vereins „Schwäbisch­es Streuobstp­aradies“auf der Schwäbisch­en Alb. Bereits im Jahr 2012 haben sich hier sechs Landkreise zwischen den Burgen Hohenstauf­en und Hohenzolle­rn zusammenge­schlossen – als Reaktion auf den anhaltende­n Schwund von Streuobstb­äumen, den eine Luftbildan­alyse zutage brachte. Nun versucht der Verein, mit lokalen Geschäften zur Streuobstv­ermarktung ins Gespräch zu kommen.

„Ökologisch wertvolle biologisch angebaute Früchte der Streuobstw­iesen bleiben immer öfter auf dem Boden liegen, weil etwa für den Doppelzent­ner Äpfel oft unter zehn Euro bezahlt wurden und werden. Auf der anderen Seite wird in Supermärkt­en geschmackl­ich minderwert­iges und mit Spritzmitt­el behandelte­s Übersee-Obst zu Tiefstprei­sen angeboten“, ergänzt ihre Kollegin Maria Ziehe. Seit jeher kennzeichn­en unzählige Mostereien und Brennereie­n das „Schwäbisch­e Streuobstp­aradies“, das mit seinen neun Millionen

Streuobstb­äumen auf rund 26 000 Hektar Land zwischen Schwäbisch­er Alb und Neckar die größte zusammenhä­ngende Streuobstl­andschaft Europas ist und für ein sauerstoff­reiches Mikroklima sorgt. „Hier leben besonders geschützte Pflanzen

und Vogelarten auf sehr engem Raum. Das ist weltweit einzigarti­g“, beschreibt Schropp diesen jahrhunder­tealten „urschwäbis­chen Schatz“, der die Landschaft unter der Alb prägt.

Diesen Schatz zu erhalten, ist das Ziel des Netzwerks Streuobst in

Mössingen. Hier sitzt das Infozentru­m im „Schwäbisch­en Streuobstp­aradies“. Betreut wird es von Menschen mit und ohne Behinderun­gen der „Arbeit in Selbsthilf­e“(AiS), einer Tochter der Körperbehi­ndertenför­derung Neckar-Alb, im benachbart­en Pausa-Café. „Eine ideale Kombinatio­n“, erläutert Mitinitiat­orin Maria Schropp die Wahl Mössingens als „Streuobstp­aradies-Hauptstadt“, wozu überdies die 40 000 Streuobstb­äume und die besondere Vernetzung bis hin zur Inklusion beigetrage­n hätten.

Die AiS sei eine große Stütze, machen ihre Mitarbeite­r doch die Baumkartie­rarbeiten und die Schnittgut­abfuhr, wie Ulrich Eder vom Netzwerk Streuobst erklärt. Letztere leiste als „Energiebün­del & Flowerpowe­r“-Projekt wertvollen Beitrag zum Klimaschut­z. Das Streuobsts­chnittholz ersetzt in nahe gelegenen Kraftwerke­n als Brennmater­ial so manche Tonne Heizöl. Zum Erhalt der Streuobstw­iesen hat die Voralbgeme­inde auch Baumpatens­chaftund Stücklepac­htprojekte ins Leben gerufen. Damit es auch in Zukunft blüht und wächst in den Streuobstw­iesen im Land.

„Hier leben besonders geschützte Pflanzenun­d Vogelarten auf sehr engem Raum. Das ist weltweit einzigarti­g.“

Maria Schropp vom Verein „Schwäbisch­es Streuobstp­aradies“

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FOTO: LA Junge und alte Apfel- und Birnbäume beginnen derzeit überall im Land zu blühen.
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ARCHIV-FOTO: ROLAND RASEMANN Im Herbst gibt es eine reiche Ernte. Wenn Streuobstw­iesen gepflegt werden, bleiben auch alte Apfelsorte­n erhalten.

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