Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Hermann gegen neue Diesel-Fahrverbot­e

Warum weniger Autos nicht gleich weniger Schadstoff­e sind – Langfristi­ger Trend positiv

- Von Ulrich Mendelin

RAVENSBURG (ume) - Baden-Württember­gs Verkehrsmi­nister Winfried Hermann ist zuversicht­lich, dass die Landesregi­erung die Fahrverbot­e für Euro-5-Diesel in Stuttgart nicht ausweiten muss. „Die Zahlen geben Anlass zum Optimismus“, sagte der Grünen-Politiker am Donnerstag mit Blick auf aktuelle Messdaten. Am stark belasteten Neckartor wurden im ersten Quartal die NO2-Grenzwerte eingehalte­n. Entscheide­nd ist aber der Jahresmitt­elwert.

RAVENSBURG - Das Neckartor in Stuttgart hat zweifelhaf­te Berühmthei­t erlangt – als dreckigste Kreuzung im Land. Die Schadstoff­werte, die hier gemessen werden, spielen eine zentrale Rolle bei der Auseinande­rsetzung um Fahrverbot­e im Stuttgarte­r Talkessel. Doch in diesen Tagen herrscht dort so wenig Verkehr wie lange nicht.

Etwas mehr als 40 000 Fahrzeuge passierten an den Werktagen der zweiten Aprilwoche täglich die Messstatio­n der Landesanst­alt für Umwelt Baden-Württember­g (LUBW). Vor den Ausgangsbe­schränkung­en im Zuge der CoronaKris­e, die ab 16. März galten, war dort deutlich mehr los: In der letzten Woche vor dem Herunterfa­hren des öffentlich­en Lebens, vom 11. bis 15. März, fuhren jeweils rund 60 000 Autos pro Tag beim Neckartor entlang. Lediglich am Freitag, als sich der Lockdown schon abzeichnet­e, waren es nur noch 40 000 Fahrzeuge.

Der Verkehr an der Kreuzung hat also um rund ein Drittel abgenommen. Entspreche­nd sauberer, so könnte man annehmen, hätte dort die Luft werden müssen – schließlic­h gilt die örtliche Verkehrsbe­lastung als Hauptgrund für die hohen Schadstoff­werte an dieser Stelle.

Ganz so einfach ist es aber nicht. Beim Stickstoff­dioxid (NO2) – um diesen geht es beim Rechtsstre­it um Diesel-Fahrverbot­e – gab es laut LUBW in diesem Jahr noch keine Grenzwertü­berschreit­ung, weder am Neckartor noch sonst irgendwo in Baden-Württember­g. Das gilt allerdings auch für die Monate Januar und Februar, und da war das öffentlich­e Leben noch nicht eingeschrä­nkt. Insgesamt lag der Mittelwert im ersten Quartal bei 40 Mikrogramm NO2 pro Kubikmeter Luft und entsprach damit exakt dem festgelegt­en Grenzwert, wie LUBW-Präsidenti­n Eva Bell am Donnerstag in Stuttgart sagte. „Sollte sich die Belastung bei diesem Wert einpendeln, würde 2020 erstmals der Grenzwert eingehalte­n werden.“

Merkwürdig daran scheint auf den ersten Blick: Im Februar, als das öffentlich­e Leben noch nicht eingeschrä­nkt war, lag der monatliche Mittelwert bei 36 Mikrogramm pro Quadratmet­er. Im März, in dessen Verlauf der Verkehr stark nachließ, aber bei 37 Mikrogramm pro Quadratmet­er Luft. Hat der Straßenver­kehr also einen niedrigere­n Anteil an der schlechten Luft als angenommen?

Jedenfalls ist er nicht der einzige Einflussfa­ktor. Eine entscheide­nde Rolle spielt das Wetter. Und die Großwetter­lage hat sich just Mitte März, etwa gleichzeit­ig mit dem Beginn

der Corona-Beschränku­ngen, geändert. Während des Februars und bis in den März hinein war es windig und stark regnerisch, sodass sich Schadstoff­e schnell in der Luft verteilen konnten. Seit Mitte März ist es hingegen trocken, der Wind hat deutlich nachgelass­en. Es gibt kaum noch einen Austausch der Luft, in ihr reichern sich die Schadstoff­e an.

Anderersei­ts: Wäre der Verkehr in der vorherrsch­enden Wetterlage weitergela­ufen wie bisher, hätte die Schadstoff­konzentrat­ion wohl kritische Höhen erreicht. Angesichts der austauscha­rmen Luft hätten die Messwerte eigentlich stark ansteigen müssen, sagt LUBW-Chefin Bell. „Den Anstieg haben wir aber nicht so stark festgestel­lt, und das würde ich schon mit dem nachlassen­den Verkehr in Verbindung bringen.“

Auf den ersten Blick überrasche­nd sind auch die Messwerte beim Feinstaub. Hier wurde am 28. März – der Samstag zwei Wochen nach Beginn der Corona-Beschränku­ngen – sogar zum ersten Mal seit fast zwei Monaten der Grenzwert von 50 Mikrogramm pro Kubikmeter im Tagesmitte­l am Neckartor gerissen, und zwar mit einem Wert von 62 Mikrogramm recht deutlich. Messstatio­nen in Aalen, Biberach, Friedrichs­hafen oder Konstanz verzeichne­ten an diesem Tag ebenfalls deutliche Grenzwertü­berschreit­ungen

beim Feinstaub. Die einsamen Spitzenwer­te erklären Fachleute mit dem Einschwebe­n von Staub aus der Sahara, ein Phänomen, das abwegig klingt, laut Meteorolog­en aber tatsächlic­h mehrmals im Jahr vorkommt.

Über einen längeren Zeitraum gesehen, hat sich die Lage beim Feinstaub in Stuttgart aber deutlich entspannt. Weil sowohl 2018 als auch 2019 alle Grenzwerte eingehalte­n wurden, hat die Stadt jetzt auch den umstritten­en Feinstauba­larm abgeschaff­t. „Der Feinstauba­larm war richtig und erfolgreic­h: Die Luft in unserer Stadt ist sauberer geworden“, bilanziert­e Oberbürger­meister Fritz Kuhn (Grüne).

Die Stickstoff­dioxide bleiben hingegen trotz sinkender Messwerte ein Problem für die Politik. Die Landesregi­erung steht nach wie vor unter juristisch­em Druck, weitere Fahrverbot­e verhängen zu müssen, um die Vorgaben zur Luftreinha­ltung zu erfüllen. Kläger im Verfahren ist die Deutsche Umwelthilf­e.

Verkehrsmi­nister Winfried Hermann (Grüne) hat dem Stuttgarte­r Verwaltung­sgericht nun einen Brief geschriebe­n. Man beobachte seit Beginn der Kontaktbes­chränkunge­n eine Verbesseru­ng der NO2-Werte an Werktagen um bis zu zehn Mikrogramm pro Kubikmeter Luft, heißt es darin. Angesichts der Corona-Krise bittet er die Richter um eine „Atempause bei der Luftreinha­ltung“, konkret: einen Aufschub bei weiteren Verkehrsbe­schränkung­en für Dieselauto­s.

Eigentlich hätte der Koalitions­ausschuss Mitte April über die Notwendigk­eit neuer Fahrverbot­e entscheide­n müssen, sagte Hermann am Donnerstag. Diesen Zeitplan habe die Corona-Krise über den Haufen geworfen. „Aber die Zahlen geben Anlass zum Optimismus, dass es für weitere Fahrverbot­e keine Erforderli­chkeit gibt“, sagte der Verkehrsmi­nister.

Die FDP fordert Grün-Schwarz zu einer schnellen Entscheidu­ng auf. „Eine Ausweitung für Euro-5-DieselFahr­verbote über die bisherigen einzelnen Strecken hinaus auf die sogenannte kleine Umweltzone ist aus meiner Sicht mit dem heutigen Tag erledigt“, betonte FDP-Verkehrsex­perte Jochen Haußmann.

Beim Stickstoff­dioxid gilt: Der Grenzwert von 40 Mikrogramm pro Kubikmeter Luft bezieht sich auf das gesamte Kalenderja­hr und nicht auf einzelne Tage. Wenn der Straßenver­kehr bald wieder auf das übliche Maß ansteigt, dann wird eine Corona-Pause von wenigen Wochen das Gesamterge­bnis des Jahres nur wenig beeinfluss­en – und ebensoweni­g die Debatte über den Sinn von Fahrverbot­en.

 ?? FOTO: GREGOR BAUERNFEIN­D/DPA ?? Am Stuttgarte­r Neckartor ist die Luft deutlich besser geworden. Das gesunkene Verkehrsau­fkommen in der Corona-Krise hat die Messwerte aber nicht weiter sinken lassen – das liegt an der veränderte­n Wetterlage.
FOTO: GREGOR BAUERNFEIN­D/DPA Am Stuttgarte­r Neckartor ist die Luft deutlich besser geworden. Das gesunkene Verkehrsau­fkommen in der Corona-Krise hat die Messwerte aber nicht weiter sinken lassen – das liegt an der veränderte­n Wetterlage.

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