Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Der Gipfel der Uneinigkeit
Die EU-Staaten streiten über finanzielle Folgen der Krise – Ein Kompromiss scheint fern
BRÜSSEL - Zum vierten Mal innerhalb von sieben Wochen ließen sich die EU-Regierungschefs am Donnerstag zum Videogipfel zusammenschalten. Erneut ging es ums Geld. Beschlossen wurde ein Hilfspaket für Kurzarbeiter, Unternehmen und verschuldete Staaten mit Kredithilfen von bis zu 540 Milliarden Euro, auf das sich die Finanzminister bereits vor zwei Wochen verständigt hatten. Doch wie der wirtschaftliche Aufbau nach der Corona-Krise aussehen soll, da liegen die Positionen noch immer weit auseinander. Ein Überblick.
Italien …
steht inzwischen mit seiner Fixierung auf Corona-Bonds ziemlich isoliert da. Natürlich hätten auch die anderen Empfängerländer nichts gegen ein System, bei dem jedes Land seinen Kapitalbedarf am Markt decken kann, ohne erhöhte Risikozinsen fürchten zu müssen. Inzwischen aber hat es sich herumgesprochen, dass neben den Niederländern auch die Deutschen allergisch auf das Thema reagieren. Da ein solches Instrument nur einstimmig beschlossen werden könnte, scheint den meisten Regierungschefs das Risiko zu hoch, durch ein Beharren auf vergemeinschafteten Schulden andere Finanzierungsmöglichkeiten zu blockieren.
Spanien …
hat sich deshalb darauf verlegt, einen wirtschaftlichen Aufbaufonds von bis zu 1,5 Billionen Euro zu fordern, der kreditfinanzierte Finanzspritzen an besonders betroffene Mitgliedsstaaten vergeben soll, die aber nicht zurückgezahlt werden müssen. In einem Interview vor dem Videogipfel warnte Spaniens Außenministerin Arancha González, die Bewältigung der Corona-Krise dürfe nicht zu einer noch größeren Schuldenlast führen. Der Vorteil dieser Lösung: Das Reizwort Eurobonds würde vermieden. Der Nachteil: Auch hier müssten die finanzkräftigen Länder mit haften. Anders als beim Europäischen Solidaritätsmechanismus ESM gäbe es keine Auflagen, und das Geld würde verschenkt, nicht verliehen.
Frankreich …
gehört ebenfalls zu den Befürwortern von Eurobonds, will sich nun aber auch mit einem wirtschaftlichen Aufbaufonds zufriedengeben. Ob der kreditfinanziert oder ein Teil des EUHaushalts sein soll, dazu hat sich Paris noch nicht eindeutig geäußert. Doch selbst wenn, wie von Deutschland angeboten, der EU-Haushalt den ursprünglichen Rahmen von einem Prozent des Bruttoinlandsprodukts deutlich übersteigen sollte, kämen keine Billionen zusammen – zumal das Bruttoinlandsprodukt der EU als Folge der Corona-Krise deutlich schrumpfen wird.
Die EU-Kommission …
hat sich in den vergangenen Wochen ähnlich vielstimmig eingelassen wie die Mitgliedsstaaten. Der französische Kommissar Thierry Breton und sein italienischer Kollege Paolo Gentiloni echoten die Begeisterung ihrer Landsleute für Eurobonds. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hingegen folgte der Linie der Bundesregierung, dass eine Lösung in einem deutlich aufgestockten EUHaushalt liegen müsse. Einen entsprechenden Entwurf will ihr Haus innerhalb weniger Wochen ausarbeiten.
Die Ratspräsidentschaft ...
dämpft alle Hoffnungen, dass ein solcher Haushalt mit heißer Nadel gestrickt werden könnte. Zunächst müsse man herausfinden, wie groß der Schaden überhaupt sei, heißt es im Umfeld von Ratspräsident Charles Michel. Dann erst könne man über Geld sprechen. Denkbar sei ein eigener Haushaltstitel für die Corona-Folgen, der womöglich den Sonderfonds für den wirtschaftlichen Wiederaufbau ersetzen könnte. Er müsse „ausreichend groß sein, und den am schwersten betroffenen Ländern und Regionen zugute kommen“, sagte Michel nach dem Videogipfel. Nun warte man auf Vorschläge der EU-Kommission.
Die Osteuropäer …
fürchten, dass sie angesichts der Corona-Misere deutlich weniger Subventionen aus Brüssel bekommen werden als bislang. Die Zahl der Geberländer, die mehr in den Haushalt einzahlen als sie heraus bekommen, schrumpft dramatisch. Erst verließ
Großbritannien die EU. Nun droht Italien so stark zu verarmen, dass es aus dem Kreis der Geber herausfällt. Wenn Geld für die Corona-Folgen, für Forschung, Infrastruktur und Klimaschutz beiseite gelegt werden soll, bleibt für Projekte in den neuen Mitgliedsländern und für die Landwirtschaft weniger übrig. Außerdem wird laut darüber nachgedacht, bei Verstößen gegen das Rechtsstaatsgebot Gelder zu kürzen. Das könnte Ungarn und Polen hart treffen.
Deutschland …
steht mit seiner nüchternen Sparpolitik immer isolierter da. Auch die vergleichsweise gute Bilanz in der Coronakrise hat Berlin bei den Nachbarn nicht nur Sympathien eingetragen. Wenn der Rest der EU ein Armenhaus werde, könne auch Deutschland nicht länger prosperieren, warnen die anderen – allen voran Frankreich. Die Gemeinschaft sei nur so stark wie ihr schwächstes Mitglied, sagte Eurogruppenchef Mário Centeno aus Portugal vor Beginn der Videokonferenz. Auch er sieht im mehrjährigen Finanzrahmen das Kernelement künftiger Corona-Hilfen. Alle Hoffnungen ruhen nun auf den Verhandlungen für den kommenden Siebenjahreshaushalt. Die sollen unter deutscher Ratspräsidentschaft im zweiten Halbjahr abgeschlossen werden. Wenn sich bis dahin aber die Chefs wegen der Kontaktverbote nicht wieder Auge in Auge gegenübersitzen dürfen, stehen die Chancen für eine Einigung schlecht.