Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Ein Anwalt der Armen und Ausgebeuteten
Wie werden zukünftige Zeiten über uns heute reden, wie werden sie uns und unser Handeln beurteilen? Was werden sie sagen, über die Menschen des Jahres 2020? Werden sie darauf hinweisen, wie wir von Maßlosigkeit getrieben, unsere Welt und die Armen ausgebeutet haben. Dass wir uns in einem Wohlstand eingerichtet hatten, der im Blick auf die zukünftigen Generationen unverantwortlich war?
Werden sie verstehen und darauf hinweisen, dass ja alle Menschen zu jeder Zeit Kinder ihrer Epoche sind – Verständnis zeigen, die großen Zusammenhänge sehen?
Kind seiner Zeit war auch Fidelis von Sigmaringen: Der dreizehnjährige Markus Roy erlebte 1591 den Verlust jeder familiären Geborgenheit und Einheit: der Vater tot, von der Mutter verlassen. Diese heiratete einen Mann in Ebingen und musste die Konfession wechseln, die Kinder zurücklassen. Der als Vormund eingesetzte älteste Bruder gebrauchte das Markus zustehende Geld für eigene Zwecke.
Diese bittere Erfahrung, diese Ereignisse, haben ihn unzweifelhaft geprägt. Als hochtalentiertes Kind konnte er in Freiburg studieren, schloss das philosophische Grundstudium als Bester seines Jahrgangs ab und beendete seine Promotion in Jura wiederum mit bestem Erfolg. Getrieben von der Sehnsucht nach Gerechtigkeit ertrug er in seiner beruflichen Tätigkeit als Advokat in Ensisheim, die Erfahrung nicht, wie sehr das Zusammenleben der Menschen und sogar die Juristerei von Ungerechtigkeiten geprägt waren.
Nach seinen eigenen Aussagen suchte er einen Ort, an dem er in vollkommener Weise Gott dienen und das Seelenheil des Nächsten fördern konnte. Diesen Platz fand er im Kapuzinerorden, der versuchte das Ideal des Franz von Assisi, Armut und Mitmenschlichkeit, möglichst konsequent zu leben. Später, in Feldkirch, setzte er seine juristischen Kenntnisse ein, um Armen und Ausgebeuteten juristisch beizustehen. So bekam er den Ruf des „Advokaten der Armen“.
Eigene, schwere Erfahrungen haben ihm wohl eine große Einfühlsamkeit
verliehen. Er sei durch und durch Seelsorger gewesen, wenn er sich Menschen in ihren vielfältigen Nöten zuwandte. Bei der Cholera unter Soldaten in Feldkirch, deren Seelsorger er war, engagierte Fidelis sich nicht nur seelsorgerlich, sondern ebenso in der Krankenpflege selbst.
Der liebenswürdigste Mensch im privaten Kontakt wurde zum unerbittlichen Kämpfer, wenn es für ihn um die Prinzipien des Glaubens ging. Der Feldkircher Autor Markus Hofer schreibt: „Vermutlich kann man ihm nur gerecht werden, wenn man ihn in seiner schillernden Vielfalt bestehen lässt, wenn er auch widersprüchlich und ambivalent bleiben darf“.
Vielleicht war es eben auch das Trauma seiner Kindheit, die Sehnsucht nach der verlorenen Einheit, die sein Handeln mitgeprägt hat. Im gut dokumentierten Inquisititionsprozess um Anna Zoller in Feldkirch wird er zur treibenden Kraft hinter dem Prozess. Vermittlungsversuche scheitern. Hofer schreibt: „Vermutlich sind in diesem Verfahren zwei gleicherweise hartnäckige Personen aneinandergeraten“. Der Prozess endet damit, dass Anna Zoller unter
Verlust des Bürgerrechts aus Feldkirch verbannt wird.
Später ist eine Entwicklung festzustellen: In den 1422 verfassten Religionsartikeln schreibt er, „Es soll keiner gezwungen werden, den katholischen Glauben anzunehmen und den seinigen als falsch zu verschwören…“Nicht zu vergessen: Wir befinden uns in der Zeit des dreißigjährigen Krieges! Hier begann er Schritte, über die zeitliche und persönliche Prägung hinauszuwachsen. Gleichzeitig blieb er Teil der Verhältnisse, einer Zeit in der religiöser Zwang und politische Gewalt auf der Tagesordnung standen.
Wie werden zukünftige Zeiten über uns heute reden – wie werden sie uns und unser Handeln beurteilen? Werden sie einmal sagen können, dass durch die Unterbrechung im Jahr 2020 eine Wandel angefangen hat. Dass viele Menschen wieder bedacht haben, was im Leben wirklich wichtig ist, was trägt, was glücklich macht, was menschlich wachsen lässt. Eine neue Kultur der Mitmenschlichkeit und des Respekts vor der Schöpfung, allem Leben und vor dem Anderssein des anderen?