Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Freisein von etwas heißt auch Freisein für etwas
Unsere Gesellschaft ist auf Aktivität ausgerichtet. Rückzug und Stille haben da keinen Platz. Aber es tut gut, hin und wieder mit sich selbst allein zu sein.
Für die meisten wäre es ein Albtraum, wenn das Handy verloren oder kaputt ginge. Schließlich ist man im Durchschnitt drei bis fünf Stunden pro Tag mit seinem Smartphone beschäftigt. Spätestens wenn man allein ist, greift die Hand ganz automatisch zum mobilen Telefon – in der Hoffnung auf ein Lebenszeichen, auf einen Kick. Denn wenn etwas Unbehagen erzeugt, ist es Stille oder besser: Funkstille. Der Mensch, so scheint es, ist nicht fürs Alleinsein geboren.
Von wegen, werden all jene sagen, die nun seit Wochen quasi rund um die Uhr mit der Familie zusammen sind und sich nichts sehnlicher wünschen, als einfach mal ihre Ruhe zu haben vor den Kindern, dem Partner und der ständigen Ansprache. Aber wetten, kaum hat man einen Moment für sich, greift man doch schon wieder zum Smartphone oder schaltet Fernseher oder Radio ein.
Aber warum halten es Menschen eigentlich so schwer mit sich aus – und sehnen sich trotzdem nach Ruhe? Neurowissenschaftler gehen davon aus, dass es kulturell bedingt ist, ob und wie gut man mit Stille und sich selbst zurechtkommt. So meditieren in Fernost viele Menschen regelmäßig und üben sich darin, alle Außenreize zu ignorieren. Der westliche Lebensstil ist dagegen durch Aktivität bestimmt. Ein Großteil der Tätigkeiten ist nach außen gerichtet, sodass Glück und seelische Gesundheit selbstverständlich mit sozialem Miteinander und einem Gutmaß an Spektakel assoziiert werden. Dass es sobald keine Großevents, Straßenfeste, Fußballspiele und Partys geben wird, kein Public Viewing oder Volksfest, kommt viele hart an. Je mehr Erlebnisse und Reize, desto höher scheint die Lebensqualität.
Auch die ständig eintrudelnden Nachrichten halten uns in steter Alarmbereitschaft. Das verursacht Stress, macht aber auch süchtig, da bei jeder Nachricht Adrenalin ausgeschüttet wird und ein Glücksgefühl auslöst. Deshalb kommt der Verlust des Handys einem kalten Entzug gleich – zumal permanente Erreichbarkeit heute vorausgesetzt und von vielen auch gern gewährt wird.
Aber auch wenn es oft so verkauft wird: wenn Angestellte noch spätabends und am Wochenende ihre dienstlichen Mails checken, hat das weniger mit Pflichtgefühl zu tun als eher mit einem Bedürfnis nach Ansprache, nach Gebrauchtwerden
und Ablenkung von sich selbst. Denn in Wirklichkeit ist es alles andere als still, wenn Radio, Netflix, PC und Smartphone abgeschaltet sind. Plötzlich wird das Chaos der eigenen Gedanken vernehmbar und verschaffen sich innere Stimmen Gehör.
„Je stiller es wurde, desto mehr hörte ich“, berichtet denn auch der Norweger Erling Kagge, der allein über den Atlantik bis in die Karibik segelte und die Antarktis durchquerte. In seinem Buch „Stille. Ein Wegweiser“schreibt Kagge, dass seine Touren immer auch eine Reise zu sich selbst gewesen seien, bei denen er plötzlich angefangen habe, über seine eigenen Wünsche, Sorgen, Werte und Ziele nachzudenken. In unserer Gesellschaft genießt das Alleinsein allerdings keinen allzu guten Ruf. Verbundenheit lautet die Devise der Zeit, sodass sich schnell ungute Gefühle einschleichen, wenn man allein ist, weil das im medialen Diskurs selbstverständlich mit Einsamkeit und Unglück gleichgesetzt wird. Aber es gibt einen entscheidenden Unterschied: Ein Mensch ist allein, wenn niemand um ihn herum ist. Einsam ist er nur dann, wenn er die anderen vermisst. Es liegt also nicht an der Situation, sondern am subjektiven Empfinden. Daher kann man sich auch in Gesellschaft sehr einsam fühlen.
„Glücklich, wer allein sein kann“, meint der amerikanische Glücksforscher Mihály Csíkszentmihályi, denn wer sich auf sich einlässt, kann Dinge entdecken, die er im täglichen Trubel verpasst. Künstlerinnen und Künstler wissen sehr genau, dass sie nur allein schöpferisch tätig sein können. Auch Autoren suchen zum Schreiben die Ruhe. Der buddhistische Mönch Thich Nhat Hanh verspricht sogar: „Freude und Glück können auch im Alleinsein tief sein.“Deshalb bietet die aktuelle Ausnahmezeit – bei allen Sorgen und Ängsten – auch die Chance, den Blick weg vom Außen hin ins Innere zu richten und sich wieder etwas mehr auf sich selbst zu besinnen.
Nicht alle Menschen sind gleich. Es gibt extrovertierte und introvertierte Typen. Letztere sind nicht etwa schüchtern und weniger sozial, wie umgangssprachlich gern behauptet wird, aber sie sind auch gern für sich und bevorzugen ausgewählte, intensive Beziehungen. Extrovertierte dagegen suchen immer neue Reize und mögen viele Kontakte zu anderen, unabhängig davon, wie intensiv diese sind. Wenn es in diesen Tagen gerade in Familien immer wieder zu Spannungen kommt, liegt das auch daran, dass introvertierte und extrovertierte Menschen aufeinanderprallen – und die Introvertierten nicht den Raum haben, den sie benötigen, während die Extrovertierten es schwer aushalten, dass sich die anderen zurückziehen.
Der Psychotherapeut Dietrich Munz ist überzeugt, dass jeder Erwachsene in der Lage sein sollte, es eine Weile nur mit sich selbst auszuhalten, ohne sich gleich zu ängstigen oder zu langweilen. Gerade weil wir heute zwischen Straßenverkehr, Laubbläsern und Presslufthammer nicht mehr wissen, wie sich die Stille anhört, ist es umso wichtiger, zu üben, sich selbst genug zu sein. Deshalb sollten Kinder auch immer wieder für sich spielen, dabei aber wissen, dass jemand in der Nähe ist.
Erst wenn wir uns mit dem existenziellen Alleinsein konfrontieren, würden wir „unsere wahre Stärke“finden, meint die Psychologin
Ursula Wagner und ist überzeugt, dass man sich dem Alleinsein bewusst stellen sollte. Denn letztlich wird jeder im Lauf seines Lebens mit Phasen des Alleinseins konfrontiert: als junger Mensch, der gerade von zu Hause ausgezogen ist, als Studierender im Auslandssemester, auf Dienstreise, nach einer Trennung oder dem Tod des Partners. In Deutschland lebt jeder Fünfte allein, und 35 Prozent aller Ehen werden geschieden. Wer Übung darin hat, mit sich allein auszukommen, ist da im Vorteil.
Wer sich gelegentlich auf das Alleinsein einlässt, wird bemerken, wie beglückend es sein kann. Denn die „Askese der Sinne“, wie die Psychologin Ursula Wagner es nennt, erzeugt keineswegs Leere, sondern auch Freisein von etwas und damit Freisein für etwas. Plötzlich tauchen Erinnerungen wieder auf, besinnt man sich auf etwas, das man immer schon mal tun wollte oder was einem wesentlich ist – aber im Trubel und Stimmengewirr des Alltags kein Gehör findet. Vielleicht werden längst vergangene Begegnungen hochgespült, Ideen, Wünsche, auch Unbehagen kann sich freilich zeigen. Man erfährt in jeder Beziehung, was in einem steckt. Das ist ein Zustand, der durchaus dem Ausmisten ähnelt, dem sich in diesen Tagen viele widmen: Die Erinnerungen – ob im Kopf oder in Fotokisten – verraten, wer man ist, und geben einem Halt.
Wie bei allem macht es letztlich die Mischung. Allzu viel Alleinsein schadet der Seele auf Dauer ebenso wie ständige Ablenkung. Ob im Zwangskollektiv oder in der Isolation: Es hilft, sich bewusst zu machen, dass Außen wie Innen zum Leben gehören – und Kontakt und Verbundenheit nicht zwangsläufig mit physischer Nähe verbunden sein müssen, sondern in erster Linie Gefühle sind. Gelegentlicher Abstand ist ein gutes Mittel, um wieder bewusst und offen in Kontakt treten und Nähe zulassen zu können. Es gibt sogar Stimmen, die behaupten, dass Menschen, die sich selbst nie genug sind und sich ohne ständige Ansprache innerlich leer fühlen, anderen nicht viel zu bieten hätten. So meinte der Schriftsteller Oscar Wilde denn auch: „Wenn du Einsamkeit nicht ertragen kannst, dann langweilst du vielleicht auch andere.“