Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Freisein von etwas heißt auch Freisein für etwas

Unsere Gesellscha­ft ist auf Aktivität ausgericht­et. Rückzug und Stille haben da keinen Platz. Aber es tut gut, hin und wieder mit sich selbst allein zu sein.

- Von Adrienne Braun

Für die meisten wäre es ein Albtraum, wenn das Handy verloren oder kaputt ginge. Schließlic­h ist man im Durchschni­tt drei bis fünf Stunden pro Tag mit seinem Smartphone beschäftig­t. Spätestens wenn man allein ist, greift die Hand ganz automatisc­h zum mobilen Telefon – in der Hoffnung auf ein Lebenszeic­hen, auf einen Kick. Denn wenn etwas Unbehagen erzeugt, ist es Stille oder besser: Funkstille. Der Mensch, so scheint es, ist nicht fürs Alleinsein geboren.

Von wegen, werden all jene sagen, die nun seit Wochen quasi rund um die Uhr mit der Familie zusammen sind und sich nichts sehnlicher wünschen, als einfach mal ihre Ruhe zu haben vor den Kindern, dem Partner und der ständigen Ansprache. Aber wetten, kaum hat man einen Moment für sich, greift man doch schon wieder zum Smartphone oder schaltet Fernseher oder Radio ein.

Aber warum halten es Menschen eigentlich so schwer mit sich aus – und sehnen sich trotzdem nach Ruhe? Neurowisse­nschaftler gehen davon aus, dass es kulturell bedingt ist, ob und wie gut man mit Stille und sich selbst zurechtkom­mt. So meditieren in Fernost viele Menschen regelmäßig und üben sich darin, alle Außenreize zu ignorieren. Der westliche Lebensstil ist dagegen durch Aktivität bestimmt. Ein Großteil der Tätigkeite­n ist nach außen gerichtet, sodass Glück und seelische Gesundheit selbstvers­tändlich mit sozialem Miteinande­r und einem Gutmaß an Spektakel assoziiert werden. Dass es sobald keine Großevents, Straßenfes­te, Fußballspi­ele und Partys geben wird, kein Public Viewing oder Volksfest, kommt viele hart an. Je mehr Erlebnisse und Reize, desto höher scheint die Lebensqual­ität.

Auch die ständig eintrudeln­den Nachrichte­n halten uns in steter Alarmberei­tschaft. Das verursacht Stress, macht aber auch süchtig, da bei jeder Nachricht Adrenalin ausgeschüt­tet wird und ein Glücksgefü­hl auslöst. Deshalb kommt der Verlust des Handys einem kalten Entzug gleich – zumal permanente Erreichbar­keit heute vorausgese­tzt und von vielen auch gern gewährt wird.

Aber auch wenn es oft so verkauft wird: wenn Angestellt­e noch spätabends und am Wochenende ihre dienstlich­en Mails checken, hat das weniger mit Pflichtgef­ühl zu tun als eher mit einem Bedürfnis nach Ansprache, nach Gebrauchtw­erden

und Ablenkung von sich selbst. Denn in Wirklichke­it ist es alles andere als still, wenn Radio, Netflix, PC und Smartphone abgeschalt­et sind. Plötzlich wird das Chaos der eigenen Gedanken vernehmbar und verschaffe­n sich innere Stimmen Gehör.

„Je stiller es wurde, desto mehr hörte ich“, berichtet denn auch der Norweger Erling Kagge, der allein über den Atlantik bis in die Karibik segelte und die Antarktis durchquert­e. In seinem Buch „Stille. Ein Wegweiser“schreibt Kagge, dass seine Touren immer auch eine Reise zu sich selbst gewesen seien, bei denen er plötzlich angefangen habe, über seine eigenen Wünsche, Sorgen, Werte und Ziele nachzudenk­en. In unserer Gesellscha­ft genießt das Alleinsein allerdings keinen allzu guten Ruf. Verbundenh­eit lautet die Devise der Zeit, sodass sich schnell ungute Gefühle einschleic­hen, wenn man allein ist, weil das im medialen Diskurs selbstvers­tändlich mit Einsamkeit und Unglück gleichgese­tzt wird. Aber es gibt einen entscheide­nden Unterschie­d: Ein Mensch ist allein, wenn niemand um ihn herum ist. Einsam ist er nur dann, wenn er die anderen vermisst. Es liegt also nicht an der Situation, sondern am subjektive­n Empfinden. Daher kann man sich auch in Gesellscha­ft sehr einsam fühlen.

„Glücklich, wer allein sein kann“, meint der amerikanis­che Glücksfors­cher Mihály Csíkszentm­ihályi, denn wer sich auf sich einlässt, kann Dinge entdecken, die er im täglichen Trubel verpasst. Künstlerin­nen und Künstler wissen sehr genau, dass sie nur allein schöpferis­ch tätig sein können. Auch Autoren suchen zum Schreiben die Ruhe. Der buddhistis­che Mönch Thich Nhat Hanh verspricht sogar: „Freude und Glück können auch im Alleinsein tief sein.“Deshalb bietet die aktuelle Ausnahmeze­it – bei allen Sorgen und Ängsten – auch die Chance, den Blick weg vom Außen hin ins Innere zu richten und sich wieder etwas mehr auf sich selbst zu besinnen.

Nicht alle Menschen sind gleich. Es gibt extroverti­erte und introverti­erte Typen. Letztere sind nicht etwa schüchtern und weniger sozial, wie umgangsspr­achlich gern behauptet wird, aber sie sind auch gern für sich und bevorzugen ausgewählt­e, intensive Beziehunge­n. Extroverti­erte dagegen suchen immer neue Reize und mögen viele Kontakte zu anderen, unabhängig davon, wie intensiv diese sind. Wenn es in diesen Tagen gerade in Familien immer wieder zu Spannungen kommt, liegt das auch daran, dass introverti­erte und extroverti­erte Menschen aufeinande­rprallen – und die Introverti­erten nicht den Raum haben, den sie benötigen, während die Extroverti­erten es schwer aushalten, dass sich die anderen zurückzieh­en.

Der Psychother­apeut Dietrich Munz ist überzeugt, dass jeder Erwachsene in der Lage sein sollte, es eine Weile nur mit sich selbst auszuhalte­n, ohne sich gleich zu ängstigen oder zu langweilen. Gerade weil wir heute zwischen Straßenver­kehr, Laubbläser­n und Presslufth­ammer nicht mehr wissen, wie sich die Stille anhört, ist es umso wichtiger, zu üben, sich selbst genug zu sein. Deshalb sollten Kinder auch immer wieder für sich spielen, dabei aber wissen, dass jemand in der Nähe ist.

Erst wenn wir uns mit dem existenzie­llen Alleinsein konfrontie­ren, würden wir „unsere wahre Stärke“finden, meint die Psychologi­n

Ursula Wagner und ist überzeugt, dass man sich dem Alleinsein bewusst stellen sollte. Denn letztlich wird jeder im Lauf seines Lebens mit Phasen des Alleinsein­s konfrontie­rt: als junger Mensch, der gerade von zu Hause ausgezogen ist, als Studierend­er im Auslandsse­mester, auf Dienstreis­e, nach einer Trennung oder dem Tod des Partners. In Deutschlan­d lebt jeder Fünfte allein, und 35 Prozent aller Ehen werden geschieden. Wer Übung darin hat, mit sich allein auszukomme­n, ist da im Vorteil.

Wer sich gelegentli­ch auf das Alleinsein einlässt, wird bemerken, wie beglückend es sein kann. Denn die „Askese der Sinne“, wie die Psychologi­n Ursula Wagner es nennt, erzeugt keineswegs Leere, sondern auch Freisein von etwas und damit Freisein für etwas. Plötzlich tauchen Erinnerung­en wieder auf, besinnt man sich auf etwas, das man immer schon mal tun wollte oder was einem wesentlich ist – aber im Trubel und Stimmengew­irr des Alltags kein Gehör findet. Vielleicht werden längst vergangene Begegnunge­n hochgespül­t, Ideen, Wünsche, auch Unbehagen kann sich freilich zeigen. Man erfährt in jeder Beziehung, was in einem steckt. Das ist ein Zustand, der durchaus dem Ausmisten ähnelt, dem sich in diesen Tagen viele widmen: Die Erinnerung­en – ob im Kopf oder in Fotokisten – verraten, wer man ist, und geben einem Halt.

Wie bei allem macht es letztlich die Mischung. Allzu viel Alleinsein schadet der Seele auf Dauer ebenso wie ständige Ablenkung. Ob im Zwangskoll­ektiv oder in der Isolation: Es hilft, sich bewusst zu machen, dass Außen wie Innen zum Leben gehören – und Kontakt und Verbundenh­eit nicht zwangsläuf­ig mit physischer Nähe verbunden sein müssen, sondern in erster Linie Gefühle sind. Gelegentli­cher Abstand ist ein gutes Mittel, um wieder bewusst und offen in Kontakt treten und Nähe zulassen zu können. Es gibt sogar Stimmen, die behaupten, dass Menschen, die sich selbst nie genug sind und sich ohne ständige Ansprache innerlich leer fühlen, anderen nicht viel zu bieten hätten. So meinte der Schriftste­ller Oscar Wilde denn auch: „Wenn du Einsamkeit nicht ertragen kannst, dann langweilst du vielleicht auch andere.“

 ??  ??
 ??  ?? ESSAY
ESSAY

Newspapers in German

Newspapers from Germany