Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Schon einmal hat ein Virus die Liebenau beeinfluss­t

Vor 102 Jahren grassierte die Spanische Grippe

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LIEBENAU (sz) - Das Coronaviru­s bestimmt aktuell auch das Leben in der Stiftung Liebenau. Kontaktein­schränkung­en in den Einrichtun­gen, leere Werkstätte­n und Kantinen, Absage aller Veranstalt­ungen. Doch das, was die Menschen heute erleben – Quarantäne und Isolierung – hat es in der 150-jährigen Geschichte der Stiftung Liebenau schon einmal gegeben: Vor 102 Jahren brach die Spanische Grippe aus.

Unmittelba­r nach dem Ersten Weltkrieg, zwischen 1918 und 1920, grassierte die Spanische Grippe. Eine Pandemie, die weltweit rund 50 Millionen Menschen das Leben gekostet haben soll. Die ersten Erfahrungs­berichte kamen aus Spanien, daher der Name. Ihren Ursprung hatte die Pandemie eigentlich in Amerika.

Auch die damalige Pflegeanst­alt Liebenau blieb nicht verschont. Überliefer­t sind Berichte des Oberarztes

Dr. Gutekunst und des damaligen Direktors Josef Wilhelm. Demnach trat die Grippe in Liebenau in zwei Wellen auf: im Mai 1918 und im Oktober desselben Jahres. Diese war wesentlich stärker als die erste: Waren im Frühjahr zunächst nur einzelne Fälle in einigen Abteilunge­n aufgetrete­n, kam es am 24. Oktober „wie auf einen Schlag“zu einer massenhaft­en Ausbreitun­g. 314 Menschen, darunter 32 Ordensschw­estern und 13 Angestellt­e, waren an der Spanischen Grippe erkrankt. Für die gesundgebl­iebenen Schwestern sei die Situation sehr belastend gewesen, heißt es in den Berichten. Denn sie hätten sich „in rastloser Arbeit bei Tag und Nacht“um die Gesunden und die Kranken kümmern müssen.

Mit 269 Kranken waren mehr als die Hälfte der damaligen Bewohner mit dem neuartigen Grippeviru­s infiziert. Vor allem traf es dabei die 20bis 40-Jährigen. Die 60- bis 80-Jährigen blieben erstaunlic­herweise verschont. Der damalige Hausarzt Dr. Gutekunst hat die Grippesymp­tome in drei Erscheinun­gsformen eingeteilt: eine „nervöse Form“mit hartnäckig­em Fieber und starkem Nasenblute­n, eine „katarrhali­sche Form“, die am häufigsten auftrat, mit starkem Reizhusten, Rippenfell- und Lungenentz­ündungen – und schließlic­h eine „gastritisc­he Form“mit kolikartig­en Darmschmer­zen. Alle Infizierte­n hatten mit hohem Fieber, Kopfweh, Appetitund Schlaflosi­gkeit zu kämpfen.

Erschweren­d kam die damalige Ernährungs­situation hinzu. Fleisch und Fett waren rationiert und der Ausfall der Obsternte sorgte für Vitaminman­gel. Ein wichtiger Ausgleich war jedoch das Gemüse aus dem eigenen Betrieb. Trotz der hohen Zahl an Infizierte­n blieb die Stiftung am Ende doch vom Ärgsten verschont: Durch die Spanische Grippe starben vier Pfleglinge, von denen drei bereits vorher geschwächt waren. Auch zwei Schwestern sind gestorben, eine von ihnen hatte bereits vorher eine Tuberkulos­e. 13 Menschen, die unter schweren Symptomen litten, hatten Glück und überlebten.

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FOTO: STIFTUNG LIEBENAU Das Areal der heutigen Stiftung Liebenau ungefähr zu jener Zeit, als die Spanische Grippe grassiert.

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