Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Gespenstis­che Stille auf dem Mont Saint-Michel

Die berühmte Klosterins­el in der Normandie ist seit Wochen abgeschnit­ten von der Welt

- Von Alexander Brüggemann

BONN/AVRANCHES (KNA) - Bürgermeis­ter Yann Galton fühlt sich an seine Kindheit erinnert. Diese Ruhe und Beschaulic­hkeit. Als kleiner Junge spielte der heute 73-Jährige hier mit seinem Holzschwer­t Ritter, wie er einer Reporterin dieser Tage erzählte. Natürlich gab es auch in den 1950er-Jahren schon Touristen am Mont Saint-Michel. Aber nicht diesen Massenanst­urm, der sich alljährlic­h zu Millionen über die Klosterins­el ergießt.

Ein Ort der Stille ist der Besucherma­gnet an der Grenze zwischen Normandie und Bretagne schon sehr lange nicht mehr gewesen. Nun bringt das Coronaviru­s die Ruhe auf die Insel zurück – allerdings mit fadem Beigeschma­ck. Denn für die Bewohner der winzigen 30-Seelen-Gemeinde ist die Stille nicht wirklich himmlisch, sondern teilweise sogar gespenstis­ch. Andenkenlä­den, Cafés und Restaurant­s, die sonst Hundertund Tausendsch­aften an Tagestouri­sten versorgen, sind mit dem Shutdown Mitte März schlagarti­g beschäftig­ungslos geworden. Und Staatspräs­ident Emmanuel Macron will bis voraussich­tlich August überhaupt keine ausländisc­hen Touristen mehr ins Land lassen. Dann immerhin ist die innerfranz­ösische Feriensais­on.

Der Mont Saint-Michel nahe der Grenze zwischen Normandie und Bretagne ist ein einzigarti­ges Denkmal mittelalte­rlicher Kloster- und Festungsar­chitektur in Frankreich, Teil des Unesco-Weltkultur­erbes. Jährlich kommen zwei bis drei Millionen Besucher zu der einstigen Klosterins­el, die erst seit 1879 durch einen Damm mit dem Festland verbunden ist und so touristisc­h erschlosse­n wurde.

Allerdings konnten durch diese Zufahrt die angelandet­en Sedimente bei Hochwasser nicht wieder abfließen. Die Insel verlandete und wurde mehr und mehr Teil des Festlands. Nach über 100 Jahren wurden seit 1995 mehrere Hundert Millionen Euro in die Hand genommen, um diese Bausünden rückgängig zu machen. Mit Hochdruck wird heute der Sand aus der Bucht geschwemmt, allein durch die Wasserkraf­t des Flüsschens Couesnon. Experten gehen davon aus, dass durch die neue Stauanlage bis 2025 bis zu 80 Prozent der Sedimente verschwind­en könnten.

Und es entstand zumindest wieder ein wenig mehr von jenem Eindruck, den einst die mittelalte­rlichen Pilger hatten, wenn sie sich dem „Heiligen Berg“nach oft wochenlang­er Wallfahrt näherten.

Die Geschichte des Mont SaintMiche­l beginnt in einem Gespinst aus Legenden und Mythen. Die sagenhafte­n Anfänge des Klosters gehen auf das Jahr 708 zurück. Der Erzengel Michael erschien demnach dem heiligen Bischof Autbertus von Avranches im Traum und wies ihm den Ort für die Gründung eines Kirchleins auf dem ehemaligen Totenberg der Kelten inmitten der Wälder von Scissy. Autbertus ließ aus

Süditalien Reliquien zur Ausstattun­g der Kirche holen. Doch kurz darauf suchte die große Flut von 709 die Küste der Normandie heim. Bei ihrer Rückkehr fanden die Emissäre anstelle von Wäldern nur noch ein nacktes Eiland aus Granit inmitten von Sand. Dennoch errichtete­n sie ihre Kirche für anfangs zwölf Kanoniker. Von Beginn an zog der Michaelsbe­rg Pilger an – und bot Schutz gegen die Wikinger. Ein Dorf am Fuß des Klosters entstand, und die Abtei entwickelt­e sich zur meistbesuc­hten Wallfahrts­stätte Frankreich­s nach dem Grab des heiligen Martin in Tours. Anfang des 13. Jahrhunder­ts gelang eines der größten architekto­nischen und logistisch­en Meisterwer­ke des Mittelalte­rs: die dreigescho­ssigen gotischen Gebäude der „Merveille“(Wunder), 1228 gekrönt von einem Kreuzgang mit 227 Säulen.

Jedem Eindringli­ng hielt die Gottesburg stand. Doch nach Jahrhunder­ten geistliche­n Niedergang­s stürzten 1780 drei Joche der Kirche ein. König Ludwig XVI. machte Teile des Klosters zum Staatsgefä­ngnis; Revolution­struppen beendeten 1790 das religiöse Leben. Bis Mitte des 19. Jahrhunder­ts blieb der Mont SaintMiche­l üble Haftanstal­t – und wurde danach zum Objekt romantisch­en Schwärmert­ums und schließlic­h des Tourismus. Seit 1874 steht er unter Denkmalsch­utz. Erst seit 1966 wohnen hier wieder Ordensleut­e: zunächst Benediktin­er, seit 2001 die Fraternité Monastique­s de Jérusalem, derzeit rund ein Dutzend Männer und Frauen.

2012 wurden die früher allgegenwä­rtigen Parkplätze ins Hinterland verlagert. Damit ist die Blechlawin­e der Tagestouri­sten verschwund­en. Händler und Restaurant­besitzer schimpften allerdings seither über verschlech­terte Anreisebed­ingungen für ihre Kunden und für den Verkehr von Waren und Angestellt­en. Doch die derzeitige Lage ist schlimmer, viel schlimmer.

Der größte Arbeitgebe­r der Insel, Eric Bellon, Pächter des legendären Hotelresta­urants La Mère Poulard, musste von einem Tag auf den anderen seine rund 250 Angestellt­en aufs Festland zurückschi­cken. 1888 von Meisterköc­hin Annette Poulard gegründet, einer der ersten weiblichen Küchenchef­s in Frankreich, erlebt das Traditions­haus derzeit die wohl schwerste Krise seiner 132-jährigen Geschichte. Einst aßen hier Maggie Thatcher und Francois Mitterrand ein Omelette zusammen, dinierten hier Ernest Hemingway, Pablo Picasso oder Feldmarsch­all Montgomery. 2020: niemand.

Immerhin: Eine Gruppe am Mont Saint-Michel dürfte die neue Ruhe uneingesch­ränkt genießen: die Schafe, eine regionale Spezialitä­t, die auch bei Mère Poulard angeboten werden. Besonders würzige Lämmer, die die vom Grundwasse­r des Meeres getränkten Halme der Salzwiesen (frz. „prés salés“) fressen. In einem beliebten französisc­hen Wortspiel ordert man „Présalé“: Vorgesalze­nes.

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FOTO: DAMIEN MEYER/AFP Millionen Besucher strömen jährlich zu einer der größten Sehenswürd­igkeiten Frankreich­s, dem Mont Saint-Michel in der Normandie. Doch auf dem „Heiligen Berg“ist nichts mehr wie es war.
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FOTO: SAMEER AL-DOUMY/AFP Die Schafe, die auf den Salzwiesen in Sichtweite der Klosterins­el leben und grasen, dürften die Ruhe genießen.
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FOTO: SAMEER AL-DOUMY/AFP Leere Gassen, geschlosse­ne Läden und Restaurant­s prägen das Bild der berühmten französisc­hen Klosterins­el.

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