Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Merkel erlaubt sich „ein Stück Mut“
Kanzlerin und Ministerpräsidenten beschließen Lockerungen und Infektions-Notbremse
BERLIN/STUTTGART - Nach sieben Wochen strenger Corona-Auflagen hat Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) am Mittwoch in Berlin weitreichende Lockerungen angekündigt. Die Kontaktbeschränkungen wurden zwar bis 5. Juni verlängert. Neu daran ist aber, dass sich künftig auch Menschen aus zwei Haushalten im öffentlichen Raum treffen dürfen. Geschäfte können ohne Begrenzung, aber unter Einhaltung strenger Hygienemaßnahmen öffnen. Menschen in Pflegeheimen dürfen wieder von einer Kontaktperson regelmäßig besucht werden. Ein Notfallmechanismus soll greifen, wenn Landkreise oder kreisfreie Städte mehr als 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner über einige Tage verzeichnen. Dieser Mechanismus erlaube es, die Beschränkungen regional wieder zu verschärfen, wenn die Zahl der Neuinfektionen ansteige, so Merkel. Über das Tempo weiterer Lockerungen bestimmen die Länder in vielen Bereichen ab sofort selbst – etwa bei Schulen, Kitas und Unis, der Gastronomie, Kinos oder Opernhäusern.
„Wir können uns ein Stück Mut leisten, aber wir müssen vorsichtig bleiben“, sagte die Kanzlerin nach dem Gipfeltreffen. Die Zahlen zu den
Neuinfektionen seien „sehr erfreulich“, betonte die Kanzlerin. „Wir haben die allererste Phase der Pandemie hinter uns.“Es müsse aber immer bewusst sein, „dass wir immer noch am Anfang der Pandemie sind“. Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU), der bereits am Vortag Lockerungen für Bayern angekündigt hatte, zeigte sich vor allem mit dem vereinbarten Notfallmechanismus zufrieden: „Diese Notbremse, das ist sozusagen die Notfallpolice.“
Deutliche Kritik an seinen Amtskollegen äußerte Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) am Mittwochnachmittag in Stuttgart. Auch seine
Regierung habe seit Langem an einem Öffnungskonzept – einem Stufenplan mit Ampelsystem – gearbeitet, erklärte er und stellte es vor. „Wir sind damit nur nicht vor der heutigen Besprechung der Kanzlerin mit den Länderchefs hausieren gegangen – sehr bewusst, und im Gegensatz zu anderen.“Als „wichtigsten Beschluss“der Konferenz bezeichnete er, dass auf den lokalen Anstieg von Infektionen schnell vor Ort reagiert werden soll. „Wir haben ja in der Vergangenheit gesehen, dass gerade lokale Brandherde zu einem echten Problem werden können.“Zudem sprach sich Kretschmann für eine Corona-App aus.
RAVENSBURG - Die Länder sollen über eine schrittweise Öffnung der Gastronomie in der Corona-Krise entscheiden. Darauf verständigten sich Kanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten der Länder am Mittwoch. Während es etwa in Bayern und NordrheinWestfalen einen konkreten Öffnungstermin gibt, wollte sich BadenWürttemberg noch nicht festlegen. Wie Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne) im Landtag ankündigte, könne die Gastronomie mit einem Zeitpunkt „vor Pfingsten“planen.
In dem Ampelsystem, das Kretschmann vorstellte und in dem Bereiche des öffentlichen Lebens geregelt sind, wird die Gastronomie dem gelben Bereich zugeordnet, in dem Lockerungen „vor Pfingsten“vorgesehen sind. In Stufe zwei steht die Öffnung der Außengastronomie, in Stufe drei folgt der Innenbereich – wenn die Infektionsrate in den kommenden Wochen stabil bleibt. Von Pfingsten an sollen auch wieder Hotels „zu touristischen Zwecken“öffnen dürfen.
Der Hotel- und Gaststättenverband (Dehoga) BadenWürttemberg begrüßte zwar die Öffnungsperspektive, forderte die Landesregierung aber gleichzeitig zur Nennung präziser Termine für Öffnungen in Gastronomie und Hotellerie auf. „Dass Ministerpräsident Kretschmann Öffnungsperspektiven für Teile unserer Branche aufzeigt, ist begrüßenswert, aber die Betriebe brauchen jetzt dringend klare Planungsgrundlagen – zum Beispiel für die Mitarbeiterdisposition, für Buchungen und für Warenbestellungen“, wird der Dehoga-Landesvorsitzende Fritz Engelhardt zitiert. Ein Stufenplan mit „vagen Angaben“reiche nicht aus, kritisierte Engelhardt: „Das Gastgewerbe in Baden-Württemberg benötigt einen präzisen Terminplan – so wie es in anderen Bundesländern auch möglich ist.“
Der Dehoga-Vorsitzende betonte, dass die angekündigten schrittweisen Öffnungen keineswegs ein Ende der Corona-Krise für das Gastgewerbe im Land bedeuten. „Wir müssen uns darauf einstellen, dass wir aufgrund der weiter bestehenden Einschränkungen und Sicherheitsmaßnahmen
nur stark verminderte Umsätze erzielen können. Außerdem gibt es für beachtliche Teile unserer Branche, zum Beispiel für Diskotheken und für Betriebe, deren Geschäfte an Großveranstaltungen gebunden sind, bis jetzt noch gar keine Öffnungsperspektive.“
Als positives Signal wertete Engelhardt die Ankündigung von Wirtschaftsministerin Nicole Hoffmeister-Kraut (CDU), „schnellstmöglich“ein Sofortprogramm für die weitgehend geschlossene Gastronomie und Hotellerie auf den Weg zu bringen. „Unser Gastgewerbe leidet massiv unter der Krise. Es bedarf hier besonderer Unterstützung, um eine Insolvenzwelle zu verhindern“, sagte die Ministerin. Deshalb werde für Gastronomie und Hotellerie ein Sofortprogramm umgesetzt. Geplant sei eine einmalige Liquiditätshilfe in Höhe von 3000 Euro für betroffene Betriebe, die um je 2000 Euro pro Beschäftigtem erhöht werden solle.
Konkreter als Baden-Württemberg ist Nordrhein-Westfalen, wo bereits am 11. Mai die Gaststätten im Innenund Außenbereich wieder öffnen dürfen. In Bayern geht es am 18. Mai mit den Außenbereichen los, die Innenbereiche sollen eine Woche später folgen – vorausgesetzt die entsprechenden Hygienevorschriften können eingehalten werden.
Gaststättenbesitzer in der Region sehen darin keine allzu große Herausforderung. „Hygiene ist seit jeher Teil unseres Gewerks“, sagte Wolfgang Marte vom Gasthof Adler in Nonnenhorn, der auch DehogaVerbandssprecher der Kreisstelle Lindau ist. Er warnte angesichts der nahenden Wiedereröffnung: „Jetzt müssen wir mit Vernunft und Verstand an die Sache herangehen. Jeder von uns, der sich nicht an die Regeln hält, gefährdet die Branche.“
Dass es absehbar in Baden-Württemberg losgeht, freut auch Oliver Loser vom Ulmer Wirtshaus Brezel. „Ich bin dankbar, zumindest kann ich dann mein festangestelltes Personal in Küche und Service wieder laufen lassen“, sagt Loser.