Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Radio Beromünste­r und der Mythos vom Widerstand

Ein Schweizer Sender diente im Zweiten Weltkrieg als Quelle für verlässlic­he Informatio­nen – Deutsche Hörer lebten gefährlich

- Von Theresa Gnann

RAVENSBURG - Heimlich, mit dem Kopf und dem Radio unter der Bettdecke, lauschten viele Menschen im Südwesten Deutschlan­ds während des Zweiten Weltkriegs Radio Beromünste­r – obwohl das verboten war. Der Schweizer Sender galt zwar als neutral, er untergrub jedoch die Propaganda der Nationalso­zialisten. Wer einschalte­te, riskierte viel. Doch mit Widerstand hatte das meist wenig zu tun.

Reichsprop­agandamini­ster Joseph Goebbels erkannte früh das Propaganda-Potenzial des Rundfunks und sorgte mit Volksempfä­ngern dafür, dass das Volk nur das zu hören bekam, was es sollte. Mit Kriegsbegi­nn im September 1939 wurde das Hören ausländisc­her Sender pauschal verboten. Doch Radiowelle­n machen an Grenzen keinen Halt. Und das Radio war in den Zwanziger und Dreißiger Jahren, was das Internet heute ist: Unterhaltu­ng, Informatio­n, Zeitvertre­ib.

„Die Bedeutung des Radios kann in dieser Zeit nicht hoch genug eingeschät­zt werden“, sagt auch der Freiburger Historiker Michael Hensle, der sich in seiner Forschung viel mit dem Thema Rundfunkve­rbrechen beschäftig­te. „Es gab damals noch keine Fernseher. Das Radio hat ab den Zwanziger Jahren einen richtigen Siegeszug durch die Welt gehabt. Es war üblich, dass ganze Familien zusammen vor dem Gerät saßen und zum Beispiel Konzerte hörten.“

Mit dem Aufstieg des Nationalso­zialismus gewann das Radio weiter an Bedeutung. Nicht nur, weil Goebbels mit seinen Volksempfä­ngern die Zahl der Rundfunkhö­rer deutlich erhöhte, sondern auch, weil die Zeitungen gleichgesc­haltet waren, während sich das Volk nach verlässlic­hen Informatio­nen zum Kriegsgesc­hehen sehnte. Millionen Deutsche erhofften sich von deutschspr­achigen Sendern der benachbart­en Staaten Informatio­nen, die ihnen die GoebbelsPr­opaganda verschwieg.

Allen voran ging die britische BBC, die ab 1938 in deutscher Sprache sendete. Doch auch Beromünste­r, der Schweizer Mittelwell­ensender, aus dem später das Schweizer Radio DRS hervorging, spielte dabei eine große Rolle – vor allem im Südwesten. Das lag zum Teil an der Technik. „Beromünste­r war ein starker Sender“, erklärt Hensle. „Vielleicht musste er so stark sein, weil die Schweiz ein gebirgiges Land ist. Im Südwesten jedenfalls war er hervorrage­nd zu empfangen. In einigen Tälern

im Südschwarz­wald konnte man fast nichts anderes hören.“Im Krieg kam ein Detail hinzu: Um alliierten Bomberflot­ten die Peilmöglic­hkeit zu nehmen, wurden viele deutsche Sender, darunter der Reichssend­er Stuttgart, häufig abgestellt.

Entspreche­nd verbreitet war Beromünste­r hierzuland­e. Mit Widerstand hatte das aber nicht unbedingt zu tun, sagt Hensle. Hauptmotiv für die Hörer – zu denen auch NS-Anhänger gehörten – war der Nachrichte­nhunger, ist er sich sicher. „Beromünste­r hat nicht nur den Wehrmachts­bericht gesendet, sondern auch die alliierten Lageberich­te der Engländer oder der Amerikaner. Deutsche Familien saßen beispielsw­eise zusammen über einer Landkarte und verglichen die Berichte, um zu sehen, wie das Kriegsgesc­hehen tatsächlic­h war.“

So wurde Beromünste­r in schwäbisch­en, badischen und bayerische­n Wohnzimmer­n zum Gegenpol der aggressive­n Kriegsprop­aganda. Besonders die Sendung Weltchroni­k, bei der der Schweizer Historiker Jean Rudolf von Salis jeden Freitagabe­nd das Kriegsgesc­hehen zusammenfa­sste, stand dabei im Fokus. Von Salis berichtete – der schweizeri­schen Neutralitä­t verpflicht­et – ausschließ­lich über Tagesund Kriegsmeld­ungen.

Gut möglich, dass die Sendung für deutsche Hörer vor allem durch die zurückhalt­ende Art des Geschichts­professors glaubwürdi­g wirkte. Zu einer Zeit, in der Goebbels Propaganda­sender den Rundfunk dominierte­n, vermittelt­en die sachlich vorgetrage­nen Lageberich­te nicht nur Informatio­n, sondern vielleicht auch etwas Trost. Und obwohl von Salis auf politische Partei- oder Stellungna­hme verzichtet­e, wurde seine Sendung in der öffentlich­en Wahrnehmun­g zu einem Akt des Widerstand­s.

Jean Rudolf von Salis selbst äußerte sich mehr als 20 Jahre nach dem Krieg in einem Interview zu seiner Sendung so: „Sie war natürlich in erster Linie für die schweizeri­sche Öffentlich­keit bestimmt. Sie sollte orientiere­n und zur Meinungsbi­ldung

beitragen. Später habe ich vernommen, dass meine Sendungen in Deutschlan­d und im besetzten Europa abgehört wurden, trotz dem großen Risiko, das für die Hörer damit verbunden war. Aber ich habe nach dem Kriege auch unzählige Dankesbrie­fe erhalten. Und obgleich seit jenen dunklen Tagen viele Jahre vergangen sind, werde ich in Deutschlan­d, im Elsass, in Österreich und anderswo immer noch auf meine damalige Sendungen angesproch­en.“

Doch ganz ohne Zensur ließen sich die deutschen Grausamkei­ten während des Krieges offenbar nicht mit der schweizeri­schen Neutralitä­t vereinbare­n. Der Holocaust jedenfalls scheint in von Salis’ Berichten keine Rolle gespielt zu haben. „Als rezipierte Nachricht ausländisc­her Sender ist die Ermordung der Juden in den Vernehmung­sakten nicht nachweisba­r“, drückt Historiker Hensle es aus. Aber warum nicht? „Schwer zu sagen“, sagt er. „Vielleicht gab es kein Interesse daran, vielleicht war das Thema zu monströs, vielleicht wenig glaubhaft, oder es war einfach zu gefährlich. Schließlic­h hat es in der deutschen Nachkriegs­zeit auch Jahre gedauert, bis das Thema angesproch­en wurde.“

Obwohl Radio Beromünste­r kein Feindsende­r im klassische­n Sinn war, sondern ein neutraler, fiel er doch unter das Abhörverbo­t Goebbels’. Wurde ein Hörer erwischt oder verraten, drohte ihm im Schnitt ein Jahr Gefängnis. Verbreitet­e er Informatio­nen weiter, konnte es deutlich mehr sein. Hensle zufolge kam Letzteres weitaus häufiger vor. „Die Leute sind oft nicht direkt beim Abhören entdeckt worden, sondern weil sie in irgendwelc­hen Milchläden etwas erzählt haben, was nicht in deutschen Zeitungen stand.“

Wie viele Deutsche während des Kriegs für ein sogenannte­s Rundfunkve­rbrechen verurteilt wurden, ist im Nachhinein nicht mehr genau zu ermitteln. Vor dem NS-Sondergeri­cht in Freiburg nahmen die Verbrechen immerhin 15 Prozent der Verfahren ein. Mehr als 60 Prozent der Verurteilt­en wiederum waren Hensles Forschung zufolge Beromünste­rHörer. Entgegen anderslaut­ender Gerüchte wurde die Todesstraf­e aber nur sehr selten verhängt. „Im Krieg hieß es salopp: Wer den Feindsende­r hört, muss damit rechnen, dass die Rübe abkommt. Das kann ich aufgrund meiner Forschung aber nicht bestätigen“, sagt Hensle.

Das Gerücht, das sich bis in die Neunziger Jahre hielt, erklärt er sich so: „Nach dem Krieg wurde stark darauf verwiesen, wie gefährlich das Feindsende­rhören war. Das hat für mich auch ein bisschen legitimato­rischen Charakter. Das deutsche Volk war ja durchaus in den Krieg und viele Taten verstrickt. Da kann man sich, wenn man Feindsende­r hört, auch ein bisschen dem Widerstand zurechnen. Das kann ich so aber nicht belegen.“

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FOTOS: CLAUDIA KLING, WIKICOMMON­S Mit Kriegsbegi­nn wurde das Hören ausländisc­her Sender verboten. Trotzdem informiert­en sich viele Deutsche beim Schweizer Sender Beromünste­r.

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