Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Willig sieht den VfB auf „gutem Weg“
Der Ex-Interimscoach über Training aus dem Homeoffice und VfB-Ziele
STUTTGART (zak) - Spätestens nach seinem Interimsjob bei den VfB-Profis ist Nico Willig in FußballDeutschland kein Unbekannter mehr. Derzeit coacht der 39 Jahre alte Fußballlehrer die U 19 der Cannstatter aus dem Homeoffice und nutzt die Zeit, „um Bereiche zu bearbeiten, die sonst auf der Strecke bleiben“. Im April 2019 hatte der Balinger interimsweise das Bundesligateam des VfB Stuttgart übernommen. Nach der Saison kehrte er zu den A-Junioren zurück.
Herr Willig, vor fast genau einem Jahr wurden Sie zum Chefcoach des VfB Stuttgart berufen. Es folgten vier Bundesligaspiele und die Relegation gegen Union Berlin, die mit dem Abstieg endete. Wie oft denken Sie noch daran zurück?
Hin und wieder stößt man auf irgendwas, das einen daran erinnert. Aber es ist inzwischen ein Jahr her. Die Zeit direkt danach hat es mich sehr viel beschäftigt. Am Ende stand der Abstieg. Wir waren nah dran am Klassenerhalt. Aber knapp vorbei ist eben auch daneben. Mittlerweile hat sich das wieder gelegt, weil mein Fokus auf der U 19 liegt. Man kann nicht immer überlegen, wie toll die Zeit war oder was wäre wenn gewesen.
Der VfB spielte in sechs Partien unter Ihrer Regie viermal zu null, zuvor hatte das Team in 30 Begegnungen fast 70 Gegentore kassiert. Die Bilanz spricht durchaus für Sie?
Mit dieser Statistik spielst du normalerweise nicht gegen den Abstieg. Die Art unseres Spiels war aber nicht rein defensiv. Wir haben mutiger agieren lassen und dadurch viermal zu null gespielt. Es ist aber nicht so, dass ich mit zahlreichen Vereinen verhandelt hätte. Ich habe bewusst meinen Vertrag im Nachwuchsbereich des VfB bis 2024 verlängert.
Der Deutsche Fußballbund unternimmt viel, damit gute Spieler irgendwann oben ankommen und mit der Nationalmannschaft Titel holen. Dennoch hat Deutschland seit Jahren zum Beispiel keinen Linksverteidiger auf Weltklasseniveau. Haben Sie eine Erklärung dafür?
Das Scouting hat sich in den letzten fünf bis zehn Jahren auf spielintelligente Spieler konzentriert. Und die Trainingsformen waren sehr ballbesitzlastig. Da haben wir den spanischen Stil übernommen. Das ist allerdings alles für zentrale Mittelfeldspieler. Dadurch hast du einen ganzen Schwung an zentralen Mittelfeldspielern ausgebildet und auch nur noch nach den Spielern geschaut und die „Einzelkämpfer“auf der Außenbahn etwas vernachlässigt. Das zeigt sich jetzt deutlich. Spieler wie Nico Schulz von Dortmund mussten beispielsweise umgeschult werden – so findest du in der Bundesliga viele Spieler. Das zeigt das Problem, das es über Jahre deutschlandweit gab. Da arbeitet man seit etwa drei Jahren wesentlich dagegen – von der Basis bis oben.
Wie sieht momentan Ihr Homeoffice als Trainer aus?
Wie alle Mitarbeiter beim VfB bin auch ich in Kurzarbeit. Es geht darum, für die Mannschaft ein Training zu strukturieren, das die Spieler zu Hause machen können. Außerdem arbeite ich mit der Leitung des Nachwuchsleistungszentrums an konzeptionellen Weiterentwicklungen.
Wie sieht das Training aus?
Das ist ein bunter Strauß an Inhalten: einmal pro Woche eine Livetrainingseinheit, eine Challenge, damit ein bisschen Leben reinkommt. Dadurch versuchen wir das athletische und das fußballspezifische Niveau so gut es geht zu halten.
Was können Sie derzeit als Trainer tun, außer Übungen zusammenzustellen?
Ich habe für mich alles, was man an Input über Vorträge bekommt, nochmal reflektiert und meine ganze Struktur überarbeitet.
Welche neuen Erkenntnisse haben Sie gewonnen?
Der Alltag eines Trainers ist sehr schnelllebig. Dann hast du hin und wieder etwas Luft und hast die Gelegenheit, mit einer Fortbildung, einem Buch oder Artikeln über den Tellerrand zu blicken. Das legst du relativ schnell wieder beiseite, weil die nächsten Sachen kommen. Nun hatte ich Gelegenheit, Dinge, wie ich beispielsweise meine Mannschaft spielen lasse, wie ich sie führe, zu streichen oder auch neu einzubauen.
Trainer und Spieler wollen natürlich auf dem Platz stehen. Aber ist dieser Shutdown vielleicht auch gut, um sich an Dinge zu machen wie zum Beispiel ein Buch lesen -, wozu sonst keine Zeit ist?
Ich habe mir den Trainerberuf nicht ausgesucht, um Homeoffice zu machen. Ich habe mir relativ schnell Aufgaben gesucht, um die Zeit positiv für mich zu nutzen und Bereiche zu bearbeiten, die sonst auf der Strecke bleiben. Zudem bin ich zum ersten Mal in einer Art Elternzeit. Das ist schon auch ein Gewinn, das hätte ich sonst als Trainer nicht.
In den Medien beklagen Familien, dass Homeoffice und eine gleichzeitige Kinderbetreuung recht schwierig ist. Sie haben zwei kleine Kinder. Wie sieht der Alltag bei Familie Willig aus?
Da meine Frau Lehrerin ist und ebenfalls im Homeoffice arbeitet, können wir uns die Aufgaben aufteilen. Hier im ländlichen Raum ist das Problem der Enge und der Wohndichte nicht so gegeben. Allerdings sollte das kein Dauerzustand werden und wir wären auch froh darüber, wenn wieder eine gewisse Normalität eintreten würde.
Beim VfB übernahm in der Winterpause Pellegrino Matarazzo für Tim Walter. Wie beurteilen Sie die Entwicklung des Teams?
Pellegrino kenne ich seit vier Jahren. Wir haben zusammen den Fußballlehrer gemacht und hatten regelmäßig Kontakt. Ich war überrascht, als sein Name fiel. Trotzdem konnte ich es nachvollziehen, weil er Qualitäten als Trainer hat und sich in Hoffenheim als Co-Trainer von Julian Nagelsmann super entwickelt hat. Die Art des Spiels hat sich durch ihn stabilisiert, es ist strukturiert und es ist klar. Ich glaube, dass man mit dieser Maßnahme in ein sichereres Fahrwasser gekommen ist – natürlich ohne eine Aufstiegsgarantie zu haben. Trotzdem glaube ich, dass das Team auf einem guten Weg ist, das Ziel, das über allem steht, zu erreichen.
Wie denken Sie denn über „Geisterspiele“?
Ich bin da auch zwiegespalten. Fußball ist auch ein Wirtschaftszweig, da hängen extrem viele Jobs dran, unter anderem auch meiner. Die Finanzplanung vieler Vereine ist auf Kante genäht, wie in vielen anderen Unternehmen auch. Das Konzept muss schon so sein, dass es der Bevölkerung vermittelbar ist.
Der Württembergische Fußballverband lässt momentan verschiedene Szenarien prüfen. Der Bayerische Verband befragte seine Mitglieder. Würde Sie sich eine einheitliche Lösung zum Fortgang des Spielbetriebs wünschen?
Ja, das wäre natürlich toll. Ich finde den Vorschlag aus Bayern interessant, die Saison unbedingt zu Ende spielen zu wollen und dann eben die nächste Saison zu verkürzen. Dann gibt es zunächst keine Gewinner und Verlierer. Es wäre dann weiterhin eine offene Situation. Wir sind alle unverschuldet in diese Situation geraten. Deshalb finde ich, dass es keine Verlierer geben sollte.