Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Steinmeier betont besondere deutsche Verantwortung
Bundespräsident erinnert an millionenfaches Leid – „Man kann dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben“
BERLIN (dpa) - Die Bundesrepublik und viele Staaten in der Welt haben am Freitag des Endes des Zweiten Weltkrieges vor 75 Jahren gedacht. In Berlin rief Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier die Bürger zur Verteidigung der Demokratie auf. Beim zentralen Gedenken betonte er zudem die besondere deutsche Verantwortung für den Zusammenhalt Europas. Er machte deutlich, dass diese Konsequenz aus der deutschen Geschichte gerade jetzt in Zeiten der Corona-Krise gelte.
„Damals wurden wir befreit. Heute müssen wir uns selbst befreien“, sagte Steinmeier und nannte neuen Nationalismus, Hass und Hetze. Die deutsche Geschichte sei eine „gebrochene Geschichte“. Dazu gehöre die Verantwortung für millionenfachen Mord und millionenfaches Leid. „Das bricht uns das Herz bis heute. Deshalb: Man kann dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben.“Steinmeier hatte für den 75. Jahrestag ursprünglich einen Staatsakt angeordnet. Vor dem Reichstagsgebäude sollten sich rund 1600 Gäste versammeln. Dies musste wegen der Corona-Pandemie abgesagt werden.
Kanzlerin Angela Merkel (CDU) telefonierte am Freitag mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin. Beide hätten die Absicht bestätigt, die Beziehungen konstruktiv zu gestalten. „Die Erinnerung an den Krieg und seine Schrecken müssten für alle Zeit wachgehalten werden“, teilte die Bundesregierung mit. Für Russland und Deutschland habe der Tag eine besondere Symbolik, hieß es aus dem Kreml.
Im Zweiten Weltkrieg hatte Hitler-Deutschland 1941 die Sowjetunion überfallen. Diese zählte mit rund 27 Millionen Toten so viele Opfer wie kein anderer Staat.
BERLIN (dpa) - Vertreter von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft, Diplomatisches Korps, Jugendliche aus aller Welt – insgesamt 1600 Gäste, versammelt vor dem Reichstagsgebäude zu einem Staatsakt. So hatte sich Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier den 8. Mai, das Erinnern an das Ende von Krieg und nationalsozialistischem Terror vorgestellt. Dann kam die Corona-Krise. Am Ende wird es ein fast schon einsames Gedenken der fünf höchsten Repräsentanten des deutschen Staates. Deutschland müsse an diesem Tag allein gedenken, sagt Steinmeier später. „Aber: Wir sind nicht allein! Das ist die glückliche Botschaft des heutigen Tages!“
Um 12 Uhr fahren die gepanzerten Wagen vor der Neuen Wache am Boulevard Unter den Linden in Berlin vor. Die zentrale Gedenkstätte der Bundesrepublik für die Opfer von Krieg und Gewaltherrschaft ist weiträumig abgesperrt. Die aus den Limousinen zuerst aussteigenden Sicherheitsbeamten tragen Mundschutz, nicht so der Bundespräsident, Kanzlerin Angela Merkel (CDU) sowie die Präsidenten von Bundestag, Bundesrat und Bundesverfassungsgericht, Wolfgang Schäuble (CDU), Dietmar Woidke (SPD) und Andreas Voßkuhle.
Steinmeier betritt den Innenraum als Letzter. Ein kurzes Zunicken – mehr geht nicht in den Zeiten von Corona. Vor der Plastik „Mutter mit totem Sohn“von Käthe Kollwitz liegen bereits fünf Kränze. Die fünf Vertreter des Staates richten die schwarz-rot-goldenen Schleifen, verharren in Stille, der Trompeter Lorenz Jansky spielt „Der gute Kamerad“. Auf dem menschenleeren
Platz davor steht das Rednerpult mit Bundesadler, an das Steinmeier schließlich tritt. „Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, liebe Freunde in Europa, liebe Partner und Verbündete rund um die Welt“– so beginnt Steinmeier. Es schmerzt ihn sichtlich, dass die Angesprochenen so fern sind. „Wir Deutsche begehen den Tag unter uns, und das ist notwendig“, sagte Richard von Weizsäcker in seiner berühmten Rede vom 8. Mai 1985. Steinmeier wollte ihn bewusst mit jenen begehen, denen Deutschland das Wiedererlangen der Freiheit nach zwölf Jahren Diktatur, die Rückkehr in die Völkerfamilie, die Einbindung in Europa verdankt.
Reden zum 8. Mai – sie können wichtige Akzente setzen, neue Orientierung geben, scharfe Kontroversen auslösen. Von Weizsäcker hat diese Erfahrung wie kein anderer mit seinem Diktum „Der 8. Mai war ein Tag der Befreiung“gemacht. Das besondere Problem Steinmeiers: Durch den geänderten Rahmen kann er nicht 30 oder 40 Minuten reden, wie er es bei einem Staatsakt gemacht hätte. Am Ende sind es 15.
Steinmeier knüpft bewusst an von Weizsäcker an, zitiert dessen Satz vom „Tag der Befreiung“und befindet, man müsse diesen heute „neu und anders lesen“. „Damals war dieser Satz ein Meilenstein im Ringen mit unserer Vergangenheit. Heute aber muss er sich an unsere Zukunft richten. ,Befreiung’ ist nämlich niemals abgeschlossen, und sie ist nichts, was wir nur passiv erfahren, sondern sie fordert uns aktiv, jeden Tag aufs Neue.“
Der Blick in die Zukunft – darauf kommt es Steinmeier an. Sicher: Er bekennt sich zur deutschen „Verantwortung für millionenfachen Mord und millionenfaches Leid“. Und er zieht daraus den Schluss: „Man kann dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben.“