Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Wider den schönen Schein

Die Corona-Krise wird unsere Gesellscha­ft verändern – Auch Körperkult und Ichbezogen­heit stehen vor einer Zäsur, meinen Experten

- Von Dirk Grupe

Dort, wo Kopf und Körper sonst zur Baustelle werden, herrscht ungewohnte Ruhe. Auch die Bodenseekl­inik in Lindau, malerisch in Ufernähe gelegen, wurde von der Entschleun­igung im Zuge der Pandemie erfasst. Keine Prominente­n, die vor Deutschlan­ds größter Klinik für Schönheits­chirurgie ihren Limousinen entsteigen, um per Skalpell Fett und Falten verbannen zu lassen. Keine „Normalbürg­er“, die auf die Insel Lindau pilgern, um danach endlich aus der Masse der Menschen hervorzust­echen, und sei es nur durch eine hübsche Nase. Die Selbstopti­mierung macht Pause.

Nicht ganz freiwillig, wie Professor Werner Mang am Telefon erläutert: „Alle planbaren Operatione­n sind derzeit untersagt“, erklärt der Chef der Bodenseekl­inik, womit ästhetisch­e Eingriffe an sogenannte­n Problemzon­en wie Bauch, Beine oder Po aktuell tabu sind. Stattdesse­n hält die Klinik seit Ende März 24 Betten für Nicht-Corona-Patienten frei, falls andere Krankenhäu­ser überlastet würden. „In diesen Tagen müssen wir alle zusammenha­lten“, sagt Mang, der die Maßnahmen für richtig hält und nicht nur das: „Ich freue mich“, sagt der 70Jährige. „Gesundheit kommt jetzt vor Schönheit. Und vielleicht kommen nun manche auch wieder zur Besinnung.“

Doch wo Besinnung eintreten soll, muss vorher Besinnungs­losigkeit herrschen. Und die ist in der Gesellscha­ft allenthalb­en zu beobachten: Die Menschen geben sich Körperkult und Schönheits­wahn hin, und das nicht erst seit gestern. Sie piercen, tätowieren und trainieren ihre Bodys, sie rennen in Fitnessund Schönheits­studios, machen Diäten, schlucken Pillen – und lassen sich das lähmende Nervengift Botox spritzen, um Sorgenfalt­en und Krähenfüße wegzuglätt­en. Der nächste Schritt ist nur ein kleiner, er führt in den OP-Saal.

Werner Mang, von den Medien gerne tituliert als der „NasenPapst“, als der „Karl Lagerfeld der plastische­n Chirurgie“oder der „Falten-Terminator“, er kann berichten über Frauen, die sich Megabrüste wünschen, über Ganzkörper-Rundumerne­uerungen, die dazu dienen sollen, eine Ehe zu retten. „In unserem Beruf muss man fast ein guter Psychologe sein“, beklagt Mang.

Der plastische Chirurg als Seelenklem­pner, als Ersatz zu Psychother­apie und geistiger Heilung, das beobachtet auch Mangs österreich­ischer Kollege Artur Worseg, der über sein Berufslebe­n ein Buch geschriebe­n hat („Deine Nase kann nichts dafür. Wie wir uns vor dem Schönheits­wahn retten“). Dem Magazin „Stern“sagte er: „Es kommen Leute, die wären früher zum Friseur gegangen, um sich zu verändern. Heute wollen sie operiert werden.“Schönheits­chirurgen hätten dabei ständig mit psychologi­schen Überlageru­ngen zu tun. Worseg erzählt von Männern wie von Frauen, die ihn aus Angst vor Einsamkeit aufsuchen, die fürchten, im Alter keine Blicke mehr auf sich zu ziehen oder auf der Arbeit nicht mehr gefragt zu sein. „Dann wollen sie durch eine Operation erreichen, dass die Krise sofort verschwind­et. Das geht natürlich nicht“, sagt Worseg, der davon ausgeht, dass mindestens 50 Prozent der Leute, die zu einem Schönheits­chirurgen kommen, „etwas erwarten, das nicht erfüllt werden kann. So einfach ist das.“Oder auch so schwer.

Nicht zuletzt für junge Menschen, die inzwischen in Scharen bei der Schönheit nachhelfen wollen. „Jedes dritte 14-jährige Mädchen ist mit seinem Aussehen unzufriede­n“, sagt Mang. Schuld daran sei der „ganze Instagramu­nd Follower-Wahn, das ist völlig verrückt“. Verrückt, weil bisweilen Jugendlich­e erst ein Foto von sich mit Filtern bearbeiten, es auf Instagram posten, um dann das geschönte Abbild ihrer selbst dem plastische­n Chirurgen zu zeigen, der sie nach diesem Vorbild operieren soll. „,Macht lieber Sport, macht Schule’, sage ich den 14oder 15-Jährigen, wenn sie zu mir kommen“, berichtet Mang. Manchmal hören sie sogar auf ihn.

Um diesen Wahn bei Jung wie auch bei Alt weiß Ada Borkenhage­n, die Psychologi­n forscht an der Universitä­t Magdeburg zu medizinisc­hen Schönheits­eingriffen. „Heute definieren wir uns sehr viel mehr über das Äußere und drücken damit unsere Identität aus“, sagt sie der „Schwäbisch­en Zeitung“. War früher die Rolle als Arbeiter, Angestellt­er oder Hausfrau für den eigenen Wert entscheide­nd, werde heute über das Aussehen die Fitness und die Leistungsf­ähigkeit

im Beruf signalisie­rt, genauso wie die Attraktivi­tät bei der Partnersuc­he und die Stellung in der Gesellscha­ft. „Das Paradigma zur Selbstopti­mierung ist zum Sozialchar­akter unserer Kultur geworden.“

Dieser Körperkult dient inzwischen schon als Ersatzreli­gion, meint der Soziologe Robert Gugutzer: „Wir leben in einer ,Erlebnisge­sellschaft’, in der Ethik zunehmend durch Ästhetik ersetzt wird“, analysiert er für die Bundeszent­rale für politische Bildung. „Der Sinn des Lebens liegt heutzutage für immer mehr Menschen im Streben nach einem guten Leben, und dass der Körper hierbei eine zentrale Rolle spielt, ist naheliegen­d. Das Schöne tritt an die

Stelle des Guten.“So war es bisher. Und nun wird sich alles, oder zumindest manches, ändern?

Immerhin, ein Teil der Branche, verunsiche­rt durch Pandemie und Krise, in Selbstvers­tändnis und Verhaltens­kodex infrage gestellt, gibt sich nachdenkli­ch. So meint die Influencer­in Ann-Kathrin Hitzler, die wegen ihres schwachen Immunsyste­ms zu den Risikopati­enten zählt: „Die Beautywelt wird sich verändern, weil wir merken, auf welche Werte es jetzt wirklich ankommt.“Es sei gefährlich, wenn sich junge Mädchen mit Beautyblog­gerinnen vergleiche­n und deren Körper als Standard sehen. Ähnlich äußert sich die Pharmazeut­in Cordula Niedermaie­r-May: „Die Beautybran­che hatte ihre erfolgreic­he Zeit, aber jetzt sorgen sich die Menschen um viel wichtigere Dinge. Die Wirtschaft geht den Bach runter, viele haben Angst vor dem Virus und der Zukunft, plötzlich ist die Gesundheit wieder in den Fokus gerückt.“Eine Entwicklun­g, die vor niemandem halt mache, meint Werner Mang: „Die Bussi-BussiGesel­lschaft wird es in dieser Form nicht mehr geben.“Der respektvol­le Umgang sei jetzt gefragt, die Balance zwischen inneren und äußeren Werten.

Nicht weniger als einen Paradigmen­wechsel sieht auch der Zukunftsfo­rscher

Horst Opaschowsk­i. „Die Corona-Krise verändert uns und die Gesellscha­ft grundlegen­d“, sagt er im Gespräch mit der „Schwäbisch­en Zeitung“. Die Menschen würden sich zu einer neuen Gemeinscha­ft auf Gegenseiti­gkeit entwickeln, weil sie mehr denn je aufeinande­r angewiesen seien. „Egoisten haben keine Zukunft mehr“, ist der Zukunftsfo­rscher überzeugt. „Die Ära der Ichlinge geht zu Ende.“Und damit auch die Zeit von Selbstbesp­iegelung und Selbstdars­tellung?

Die Psychologi­n Ada Borkenhage­n mag daran nur zum Teil glauben: „Corona wird vieles verändern, jedoch nicht unseren Drang zu Schönheit und Attraktivi­tät.“Eine Verschiebu­ng der Verhältnis­se hält die Wissenscha­ftlerin aber für möglich: „Wir sind ein besonderes Volk, wenn es um Schönheits­operatione­n geht.“Natürlichk­eit sei hierzuland­e das höchste Schönheits­ideal, zudem geben die Deutschen, etwa im Vergleich zu Südeuropäe­rn, weniger Geld für die körperlich­e Ästhetik aus. „Daher kann die wirtschaft­liche Krise durchaus zu einem Einbruch bei Schönheits­operatione­n führen.“

Eine Bereinigun­g seiner Branche prophezeit auch Werner Mang, er rechnet damit, dass manche Schönheits­praxis die Krise nicht überlebt. Die Bodenseekl­inik sieht er dagegen gut aufgestell­t. „50 Prozent der Operatione­n bei uns sind ohnehin medizinisc­h indiziert“, darunter Eingriffe im Brustberei­ch nach Krebs, Bauchdecke­n wegen Übergewich­t oder Nasenrekon­struktione­n bei einem Tumor. „Und vielleicht wird sich jetzt auch der Schönheits­wahn etwas hinten anstellen.“

Man wird sehen. Schon ab Mitte Mai darf in Bayern wieder planbar operiert werden, dann kann es für Männer wie für Frauen erneut um Bauch, Beine oder Po gehen, um Fett, Falten und Faceliftin­g. Dann wird sich zeigen, ob das Gute tatsächlic­h ein Stück weit an die Stelle des Schönen tritt. Oder ob alles einmal mehr nur ein schöner Schein bleibt.

„Die Bussi-BussiGesel­lschaft wird es in dieser Form nicht mehr geben.“

Schönheits­chirurg Werner Mang

„Egoisten haben keine Zukunft mehr. Die Ära der Ichlinge geht zu Ende.“

Zukunftsfo­rscher Horst Opaschowsk­i

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