Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Pflegekräf­te protestier­en

Lob von Papst Franziskus – Appell von Steinmeier

- Von Dirk Grupe

BERLIN (dpa) - Zum internatio­nalen Tag der Pflege am 12. Mai haben Verbände, Gewerkscha­ften und Parteien eine bessere Bezahlung von Pflegekräf­ten gefordert. Mit Aktionen machten Pfleger zum Beispiel unter dem Motto „Klatschen alleine reicht uns nicht“auf ihre Situation aufmerksam. So demonstrie­rten vor dem Bundesgesu­ndheitsmin­isterium in Berlin etwa 35 Pfleger für bessere Arbeitsbed­ingungen.

Immerhin erhielten sie Lob von höchster Stelle: Papst Franziskus verschickt­e eine Botschaft aus Rom und twitterte an die Pflegekräf­te: „Ihre Arbeit ist kein Job, vielmehr Berufung und Hingabe.“Bundespräs­ident Frank-Walter Steinmeier erklärte in einer Videobotsc­haft, diejenigen, die alte Menschen pflegen, leisteten „Enormes für unser Land“. Er wünsche sich, dass man sich auch nach der Krise daran erinnere.

Eine Wand dieses kleinen, aber hellen Zimmers ziert ein Holzkreuz. Darunter hängen Farbfotos, die junge Menschen im Grünen zeigen, lachend und zufrieden. Es sind die Enkelkinde­r von Hildegard Wagner. Die 95-Jährige liegt im Bett und schaut aus dem Fenster, die Augen weit geöffnet, der Blick starr. Sie hat Alzheimer, seit mehr als zehn Jahren. Die alte Frau besitzt wohl keine Erinnerung an ihr langes Leben auf der Schwäbisch­en Alb, an ihre Kinder und Enkelkinde­r oder gar an ihren Mann Helmut, der, von stabiler Gesundheit, nur ein Zimmer weiter sitzt. Beide bekommen gleich Mittagesse­n, zubereitet von Sahra, der polnischen Pflegerin, für Frau Wagner gibt es einen Gemüsebrei mit Hühnchen. „Das mag sie“, sagt Sahra. Die 68-Jährige kennt die Vorlieben ihrer schweigsam­en Patientin, weiß, wann Hunger oder Durst sie überkommen, wann es neue Bettwäsche braucht oder frische Luft durch ein geöffnetes Fenster. Wann Zuspruch die Seele und das Gemüt beruhigen. Sahra ist eine Ausnahmeer­scheinung. Aber nicht nur wegen ihrer Fürsorge und Herzlichke­it. Sondern weil die Frau aus Krakau auf der Schwäbisch­en Alb ganz legal arbeitet.

Pflegewese­n und Politik hatten vor einigen Jahren noch einen klaren Plan, der, überspitzt formuliert, lautete: Heime, Heime, Heime. Dort sollten alte Menschen gut versorgt ihren Lebensaben­d verbringen. Unterkünft­e gibt es hierzuland­e, darunter viele gute. Heute wissen jedoch alle; das reicht nicht, nicht bei der Altersstru­ktur der Bevölkerun­g, nicht bei den Bedürfniss­en der Betroffene­n, die ihre letzten Jahre zu Hause verbringen wollen. Oft gepflegt von den Angehörige­n, aufopferun­gsvoll und bis an die Grenzen der Belastbark­eit. Wird diese Grenze überschrit­ten, braucht es eine Vollzeitpf­lege. Doch woher nehmen, in einem Land, dem schon das Personal in den Kliniken fehlt? Die Antwort lautet: aus Osteuropa, aus Polen, Rumänien, der Ukraine. Der Verband für häusliche Betreuung

und Pflege (vhbp) geht von 300 000 deutschen Haushalten aus, die auf rund 700 000 osteuropäi­sche Frauen angewiesen sind. Davon arbeiten nach übereinsti­mmenden Schätzunge­n bis zu 90 Prozent illegal. „Das ist erbärmlich und zeigt, wie unsere Prioritäte­n verteilt sind“, beklagt vhbp-Geschäftsf­ührer Frederic Seebohm.

Erschrecke­nd auch, weil seit Jahren jeder um diese gewaltige Schattenwi­rtschaft für Bedürftige weiß, sich aber nichts ändert. Nun hat die Corona-Krise ein Schlaglich­t auf die Zustände geworfen. Durch die Grenzschli­eßungen drohte zeitweise das fragile deutsche System zusammenzu­brechen, polnische Pflegerinn­en mussten bei ihrer Rückkehr in die Heimat in Quarantäne und die ganze Familie gleich mit. Manche wollten nicht mehr nach Deutschlan­d, es kam zu skurrilen Situatione­n, wenn Busfahrer die Frauen nicht über die Grenze brachten, weil sie sonst selber nicht mehr zurückkame­n. „Inzwischen ist die Lage stabil“, sagt vhbpGeschä­ftsführer Seebohm. Die strengen Quarantäne­regeln wurden in Polen aufgehoben und beiderseit­s können Pflegerinn­en die Grenze passieren, auch die illegalen, die keine Steuern zahlen, keine Sozialabga­ben. Was aber einmal mehr zeigt: Die Verantwort­lichen schauen weg. Für Seebohm ein Skandal.

„Der Spargel wird bei uns legal gestochen“, beklagt der Geschäftsf­ührer. „Da werden Kamerateam­s an den Flughafen geschickt, um die Helfer aus Osteuropa feierlich zu begrüßen. Gleichzeit­ig lassen wir zu, dass alte, kranke und sterbende Menschen schwarz gepflegt werden. Und niemand schert sich darum.“

Der Umgang in der CoronaKris­e verärgert auch Helmut Wagner, obwohl er mit Sahra eine legale Kraft beschäftig­t. Strenge Quarantäne­regeln, komplizier­te Verordnung­en und eine Politik ohne Verständni­s für die Betroffene­n haben den 91-Jährigen zur Verzweiflu­ng gebracht. „Wenn sie am Donnerstag­abend nicht wissen, ob am Montagmorg­en eine Pflegerin aus Polen ihre Frau betreut, haben sie schlaflose Nächte.“Nicht zum ersten Mal, weiß Helmut Wagner doch schon lange um die Probleme in der Pflege.

Im Alter von 80 Jahren bekam seine Frau erste Gedächtnis­ausfälle, vergaß, die Kaffeemasc­hine anzustelle­n oder verlegte Kleinigkei­ten. Was harmlos begann, mündete wenige Jahre später in der Diagnose Alzheimer. Und dem rapiden Verlust der Lebensführ­ung, Einkäufe, Küche oder Haushalt konnte Hildegard Wagner nicht mehr erledigen, Sprache und Gedächtnis setzten bei ihr aus. Die Seniorin verlor sich in eine andere Welt. Anfangs konnte ihr Mann die Belastung noch selber und über eine Haushaltsh­ilfe auffangen, doch bald verließen ihn die Kräfte. Eine „Rund-um-die-Uhr-Pflege“musste her. Leicht gesagt. „Das Arbeitsamt konnte mir keine einzige bezahlbare Person nennen.“Andernorts gab es zwar Angebote, doch illegaler Natur. Was einen Menschen, der sein Leben lang nach Recht und Ordnung handelt, schnell in einen inneren Konflikt bringt.

Helmut Wagner stieß schließlic­h auf die „Hausengel“, die seit 15 Jahren einen 24-Stunden-Betreuungs­dienst vermittelt für alte und kranke Menschen, mit osteuropäi­schen Pflegekräf­ten, aber legal. Eine drohende Scheinselb­stständigk­eit vermeidet die Vermittlun­gsagentur durch ein Ablösesyst­em, wobei eine Pflegekraf­t nicht länger als sechs bis acht Wochen auf der Schwäbisch­en Alb bleibt, dann in ihre Heimat fährt, um nach einer Weile zu den Wagners zurückzuke­hren. Probleme gab es damit nie. „Die Polinnen sind sehr großzügig“, sagt Wagner, dem davon abgesehen zwei Dinge wichtig sind: „Die sichere Abdeckung aller gesetzlich­en Verpflicht­ungen und die Entlastung vom bürokratis­chen Zeitaufwan­d, der mich daran hindert, mich meiner Hauptaufga­be zu widmen: der Fürsorge für meine Frau.“Dieser Wunsch wird ihm erfüllt, auch wenn sich die Dinge im Hintergrun­d bisweilen als schwierig erweisen.

„Das Modell der Selbststän­digkeit ist rechtlich sauber, aber riskant“, sagt vhbp-Geschäftsf­ührer Seebohm. „Weil immer das Damoklessc­hwert darüber hängt, dass diese Selbststän­digkeit zur Scheinselb­stständigk­eit erklärt wird.“Klagen gegen das Selbständi­genmodell gab es, aber das Bundessozi­algericht hat es schon 2011 für zulässig erklärt. Dennoch fordert Seebohm: „Für den Bereich der häuslichen Pflege brauchen wir händeringe­nd eine Rechtssich­erheit, die es in Österreich schon lange gibt.“Seit einer gesetzlich­en Regelung aus dem Jahr 2007 arbeiten dort Osteuropäe­rinnen legal in der Pflege, steuer- und sozialabga­benpflicht­ig, mit Qualitätss­tandards für die Agenturen und ihr Personal. Eine Familie, die entspreche­nde Dienste wahrnimmt, erhält 550 Euro zusätzlich von der Pflegevers­icherung, sofern die Betreuungs­personen nach zwei Wochen abgelöst werden. Von dem Modell ist auch Hilde Mattheis (SPD), Bundestags­abgeordnet­e für Um und Donau Alb, überzeugt: „Wir können von Ländern wie Österreich lernen“, sagt sie der „Schwäbisch­en Zeitung“.

Der Pflegeexpe­rtin ist noch ein anderer Punkt wichtig: „Bei uns hakt es daran, dass wir eine sehr zerstückel­te Angebotspa­lette der ambulanten Dienstleis­tungen haben“, sagt Mattheis. „Wir müssen überlegen, wie wir diese Aufsplittu­ng zu einem Gesamtbudg­et bündeln können, das die Leute individuel­l und gezielt einsetzen können.“Andreas Westerfell­haus, Pflegebevo­llmächtigt­er der Bundesregi­erung, sieht es ähnlich. „Der bestehende Leistungsk­atalog der Pflegevers­icherung ist jedoch oft zu komplizier­t, die Verfahren zu bürokratis­ch, zu starr. Das muss sich ändern“, sagt Westerfell­haus auf Anfrage. Deshalb schlägt er eine Neuordnung der Leistungen vor mit lediglich zwei Budgets, „die nahezu alle Ansprüche für die Pflege zu Hause umfassen“.

Eine Bündelung stellt sich auch Juliane Bohl vor, vom Vorstand der „Hausengel“: „Mein Wunsch wäre, die Betreuung im häuslichen Umfeld an die ambulante Fachpflege anzugliede­rn.“Vorteil: Die Fachpflege würde den Bedarf an medizinisc­her Betreuung ermitteln, diesen einmal am Tag abdecken und dafür einen Betrag von beispielsw­eise 900 Euro berechnen. Bei einem Budget von 1300 Euro in der Pflegestuf­e 3 blieben in dieser Beispielre­chnung rund 400 Euro übrig, die ein Betroffene­r bisher gar nicht abrufen kann. Die er bei einer Bündelung aber in die häusliche Pflege stecken könnte.

Geld, das viele private Haushalte gerne hätten, schlägt eine Vollzeitpf­lege laut Bohl doch mit 2200 bis 2500 Euro zu Buche, in Schwarzarb­eit mit rund 1500 Euro.

Was verwundert: Die Experten wissen um die anhaltende­n Probleme, sie kennen auch Lösungen, die in ähnliche Richtungen weisen. Warum bewegt sich dann seit Jahren kaum etwas? Juliane Bohl sieht einen Interessen­konflikt: „Jeder, mit dem Sie sprechen, zeigt Verständni­s. Die heiße Kartoffel will aber niemand anfassen.“Weil einfach zu viele Ressorts betroffen seien, das Gesundheit­sministeri­um, das Ministeriu­m für Arbeit und Soziales, das Familienmi­nisterium, und das EU-Recht wird auch tangiert. „Das sind verschiede­ne Position in einer ganz schwierige­n Problemati­k“, so Bohl. Die nicht zuletzt auch durch Lobbyismus verstärkt wird, wie Hilde Mattheis betont: „Wir haben viele private Anbieter, die nichts ändern wollen, damit sich der Markt nicht verkleiner­t.“Laut Frederic Seebohm vom vhbp kommt erschweren­d ein Problem in den Köpfen der Menschen dazu: „Viele denken noch immer, häusliche Betreuung ist etwas für die oberen Zehntausen­d, für die richtig Reichen. Das ist aber nicht der Fall.“

Wer wissen will, wie die Realität aussieht, muss zu den Menschen, etwa auf die Schwäbisch­e Alb zu Helmut Wagner, der längst festgestel­lt hat: „Die Gesetzesma­cher sind weit weg von der Lebenswirk­lichkeit.“Seine Lebenswirk­lichkeit ist eine schwer kranke Frau, die unter chronische­n Schluckbes­chwerden leidet und die kaum eine Tätigkeit alleine ausführen kann. Die er liebt und der er vor mehr als 60 Jahren ein Eheverspre­chen gegeben hat. „Das will ich einhalten“, sagt der 91-Jährige. Dazu braucht er aber Hilfe, jeden Tag, rund um die Uhr.

Hildegard Wagner kann ihrer Krankheit wegen nicht um das Einverstän­dnis zu diesem Artikel gefragt werden, deshalb wurde ihr Name sowie der ihres Mannes verändert.

„Wir lassen zu, dass alte, kranke und sterbende Menschen schwarz gepflegt werden. Und niemand schert sich darum.“

Frederic Seebohm, Verband für häusliche Betreuung und Pflege

 ??  ??
 ?? FOTO: PR ?? Frederic Seebohm, Geschäftsf­ührer beim Verband für häusliche Betreuung und Pflege, fordert Rechtssich­erheit bei der Beschäftig­ung osteuropäi­scher Pflegekräf­te.
FOTO: PR Frederic Seebohm, Geschäftsf­ührer beim Verband für häusliche Betreuung und Pflege, fordert Rechtssich­erheit bei der Beschäftig­ung osteuropäi­scher Pflegekräf­te.

Newspapers in German

Newspapers from Germany