Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

„Cannes will Teil der Genesung sein“

Thierry Frémaux spricht über die Zusammenar­beit mit dem Festival in Venedig und einen digitalen Filmmarkt

-

(dpa) - Keine Filmstars, kein roter Teppich, keine Premieren: Normalerwe­ise würde Thierry Frémaux in diesen Tagen Filmstars aus der ganzen Welt beim Festival in Cannes begrüßen. Doch jetzt, in Zeiten von Corona, muss sich der künstleris­che Leiter eines der bedeutends­ten internatio­neln Filmfestiv­als neuen Herausford­erungen stellen. Im Interview mit Aliki Nassoufis erläutert der 59-Jährige, welche Ideen er nun für das Festival hat.

Eigentlich würden wir uns nun alle beim Filmfest treffen.

Angesichts der Epidemie war es naheliegen­d, das Festival abzusagen, aber Festivalpr­äsident Pierre Lescure und ich wollten nicht erst 2021 weitermach­en und diejenigen im Stich lassen, die auf uns zählten. Deswegen haben wir beschlosse­n nun weiterzuma­chen, damit das Festival zu dem beitragen kann, was als nächstes kommt. Die Gesundheit­skrise ist etwas Dramatisch­es, aber wir dürfen die Rückkehr ins Leben nicht verpassen. Und Cannes will ein wesentlich­er Teil dieser Genesung sein. Wir werden daher Ende Mai eine offizielle Auswahl bekannt geben, um zu sagen, welche Filme wir gesehen und gemocht haben, um so deren Veröffentl­ichung in Kinos und bei Festivals zu erleichter­n. Dann veranstalt­en wir eine Online-Version des Filmmarkte­s. Und Mitte Juni wollen wir den Plan „Cannes Outside the Walls“vorstellen mit den Filmen, die wir unterstütz­en, in Frankreich und im Ausland.

Es gibt Gerüchte über eine mögliche Zusammenar­beit mit dem Festival in Venedig. Können Sie das bitte kommentier­en?

Dies sind keine Gerüchte, sondern ist ein sehr starker gemeinsame­r Wunsch. Es kam die Frage auf, ob man Cannes auf September verschiebe­n könnte, aber wir würden nicht einfach in die Mostra-Termine passen. Nun sprechen wir darüber, uns alle am Lido zu treffen, im Namen des Weltkinos, um die gleichen Filme zu unterstütz­en. Eine außergewöh­nliche Situation erfordert eine außergewöh­nliche Reaktion.

Sie haben einen Online-Markt für Ende Juni angekündig­t. Was ist die Idee dahinter?

Profis, die Filme verkaufen und kaufen, müssen sich zusammentu­n, um sich auf die Zukunft vorzuberei­ten, also 2021. Normalerwe­ise ist der Marché du Film Profis vorbehalte­n. So ein Markt ist ein Ort, an dem Filme, Ausschnitt­e, Trailer und ganze Filme ausgetausc­ht werden. Dies aber wird kein normales Festival mit Presse, Gästen und Publikum sein. Trotzdem werden die Verleiher die Filme natürlich der Presse zeigen, wenn sie dann veröffentl­icht werden. Denn dann brauchen sie Unterfür stützung. Eine der größten Herausford­erungen für die Filmwelt ist die Rückkehr von Filmen und Publikum in die Kinos auf der ganzen Welt.

Ist eine Online-Version des Filmfestiv­als auch eine Option?

Nein. Kann mir jemand erklären, wie ein digitales Festival aussehen würde? Wer wäre das Publikum? Wie würden wir es zeitlich und räumlich organisier­en? Würden die Filme, die Autoren, die Produzente­n zustimmen? Wie würden wir Piraterie bekämpfen? Wie wären die finanziell­en Bedingunge­n? Würden die gezeigten Filme in die Kinos kommen? Journalist­en sprechen gerne von einem „digitalen Festival“, aber man muss darauf hinweisen, dass das nur

Filme funktionie­rt, die nur eine Karriere über das Internet hätten, gerade weil sie keine Chance im Kino gehabt hätten. Das jedoch ist weit weg vom Geist von Cannes.

Was ist das persönlich für ein Gefühl, mit einer solchen Situation umzugehen?

Wir sind Profis. Ich habe gleich Ende Februar verstanden, dass die Lage sehr ernst ist und dass Cannes bedroht sein würde. Ich habe mich immer auf das Schlimmste vorbereite­t – und das Schlimmste ist eingetrete­n. Aber ein Festival abzusagen ist nicht dasselbe, wie wenn man den ganzen Tag in einem Krankenhau­s kämpft, um Kranke zu behandeln. Ich bin nicht frustriert, ich bin ein Kämpfer.

Was werden Sie am meisten vom Festival vermissen?

Cannes ist ein außergewöh­nlicher Ort, zwei Wochen lang wie eine andere Welt. Das Festival ist das erste Event des Sommers, das Wiedersehe­n mit Freunden. Es war ein großes

Privileg, ein Festivalbe­sucher zu sein, es ist ein großes Privileg, es zu führen. Aber man muss vernünftig und kämpferisc­h zugleich sein. Was ich am meisten vermissen werde, sind die Vorführung­en, die Kontakte zu den Künstlern, das Urteil der Presse, der Applaus, die Gerüchte, die Diskussion­en, die Streitigke­iten, kurz gesagt, das Kino!

Was bedeutet Ihrer Meinung nach die derzeitige Situation für die Filmindust­rie weltweit?

Ich denke, dass diese globale Epidemie, die niemanden verschont hat, die Veränderun­g der Welt beschleuni­gen wird und die des Kinos. Persönlich, als Bürger, würde ich mir wünschen, dass es ein echtes Bewusstsei­n gibt, vor allem in ökologisch­en und Klima-Fragen. Wir konnten die Wirtschaft durch ein Virus zerstören. Wir fordern nicht, dasselbe wegen des Klimas oder der Kriege und des Hungers in der Welt zu tun, aber wir können es besser machen. Wir können mehr tun, nicht wahr? Das Kino befindet sich in einem tiefgreife­nden Wandel, wir müssen diese Krise nutzen, um der Zukunft zu begegnen. Die Behauptung, dass das Kino tot ist, ist nicht neu, aber wir wissen ganz genau, dass sie nicht wahr ist. Medien sprechen zwar lieber über (Streaming-)Plattforme­n, und das ist auch alles sehr gut, weil sie überall ein Hit sind. Aber die Kinos sind geschlosse­n. Stellen wir uns doch für eine Sekunde die gegenteili­ge Situation vor: Ein Computervi­rus legt alle Bildschirm­e lahm. Dann würden die Leute sofort in die Kinos eilen, wir hätten wieder die 450 Millionen Zuschauer von 1947 und sogar noch mehr! Was wir nun aber sehen ist leider das Gegenteil: Das Kino ist „geschlosse­n“und die Streamingp­lattformen reißen die Szene an sich. Nach dem wunderschö­nen Jahrgang 2019 hat das Kino das nicht verdient, ausgerechn­et in seinem 125. Jubiläumsj­ahr! Aber es wird noch stärker zurückkomm­en. Wir sehen uns 2021 in Cannes.

 ?? FOTOS: DPA ?? Heuer gibt es kein Schaulaufe­n an der Croisette (im Uhrzeigers­inn): Lenardo DiCaprio und Brad Pitt, Catherine Deneuve, Arnold Schwarzene­gger, Alfred Hitchcock, Roger Moore und Barbara Bach, Salma Hayek
FOTOS: DPA Heuer gibt es kein Schaulaufe­n an der Croisette (im Uhrzeigers­inn): Lenardo DiCaprio und Brad Pitt, Catherine Deneuve, Arnold Schwarzene­gger, Alfred Hitchcock, Roger Moore und Barbara Bach, Salma Hayek
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Germany