Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Pippi feiert Geburtstag
Die freche Göre wird 75 Jahre alt und lädt ein – So kann man sich eine Party im Garten der Villa Kunterbunt vorstellen
Der Postbote wundert sich etwas über die bunten, handgeschriebenen Karten, die er einwerfen soll. In krakeliger Schrift steht darauf: „Du solst zu Pippi sur Gebutsfeier komen. Ansug: was ir wolt.“Die Empfänger Annika und Tommy, Inger Nilsson, Karin Nyman, geborene Lindgren, und Björn Ulvaeus von ABBA sind dagegen wenig erstaunt über diese Einladung, kennen sie das einst so wilde Mädchen mit den abstehenden feuerroten Zöpfen, das am 21. Mai 75 Jahre alt wird, doch ganz genau. Sie freuen sich allesamt auf die Geburtstagsparty im Garten der Villa Kunterbunt. Das verspricht ein ganz besonderes Fest zu werden, denn Pippi Langstrumpf ist auch im hohen Alter noch ausgesprochen beliebt, und ihre ausgefallenen Streiche sind auf der ganzen Welt legendär.
Am kommenden Donnerstag ist es so weit. Karin Nyman öffnet als Erste das kleine, knarzende Tor, das in den Garten der Villa Kunterbunt führt, die wohl nahe Vimmerby im schwedischen Smaland steht. Der Kleine Onkel, das Pferd, schaut aus dem Fenster, und der Affe Herr Nilsson turnt auf dem Dach herum. Der Garten ist bunt geschmückt mit ausgefransten Tüchern, Fahnen aus dem Taka-Tuka-Land und selbst gemalten Bildern. Von Pippi Langstrumpf ist weit und breit nichts zu sehen. Doch plötzlich hört Karin das Geburtstagskind aus der Küche rufen: „Komme gleich, muss nur noch den Kuchen mit KrummelusPillen verzieren, damit wir auf ewig Kinder bleiben. Hol dir schon mal eine Limonade aus dem Baum!“
Karin, selbst schon eine betagte Dame, ist die Tochter von Astrid Lindgren und, wenn man so will, also die Schwester der Jubilarin. Und ihre Namensgeberin. Denn als Karin sieben Jahre alt war, lag sie mit einer Lungenentzündung im Bett und bat ihre Mutter: „Erzähl mir von Pippi Langstrumpf.“Und ihre fantasievolle Mutter legte los, erfand die Geschichte von Pippilotta Viktualia Rollgardina Pfefferminz Efraimstochter Langstrumpf, einem neunjährigen Mädchen mit Sommersprossen und bunten Strümpfen, das ohne Eltern, dafür mit einem Äffchen und einem Pferd in der Villa Kunterbunt lebt und ordentlich Unsinn treibt. Als Karin am 21. Mai 1945 elf Jahre alt wurde, überreichte ihr ihre Mutter Astrid ein hübsches Kästchen. Darin lag das Manuskript zu Pippi Langstrumpf. Denn Astrid Lindgren schrieb die Geschichten, die sie einst ihrer Tochter erzählt hatte, auf, während sie wegen eines verstauchten Beines selbst das Bett hüten musste.
Als Pippi mit dem Geburtstagskuchen in der Hand aus dem Haus kommt, lässig das Geländer der Veranda herunterrutscht und lachend auf ihren ersten Gast zuläuft, muss Karin schmunzeln. Von ihrem einnehmenden Wesen hat Pippi überhaupt nichts verloren, und ihre Fröhlichkeit ist so ansteckend wie vor 75 Jahren. Wie sehr muss sich der schwedische Bonnier-Verlag wohl heute noch ärgern, weil er damals das Manuskript Lindgrens abgelehnt hatte, nicht ahnend, dass er damit einen späteren Welterfolg in die Tonne kickte. Die drei Bücher über Pippi Langstrumpf wurden in 77 Sprachen übersetzt, von Finnisch („Peppi Pitkätossu“) bis Indonesisch („Pippi Si Kaus Panjang“), und 66 Millionen Mal weltweit verkauft.
Pippi und ihr Gast umarmen sich herzlich. „Ich soll dich von den Oetingers aus Deutschland ganz lieb grüßen“, richtet Karin aus. „Schade, dass Friedrich mein Jubiläum nicht mehr erleben kann. Er hat wohl zu wenig Krummelus-Pillen geschluckt“, bedauert Pippi und trinkt mit Karin ein Glas Limonade auf den 1986 verstorbenen Verleger, der Pippi 1949 nach Deutschland geholt hat. Ihm ist es zu verdanken, dass Pippi und überhaupt alle Astrid-Lindgren-Werke in Deutschland so beliebt und bekannt sind wie in keinem anderen Land, Schweden mal ausgenommen.
Die beiden Familien Lindgren und Oetinger sind bis heute freundschaftlich verbunden und besuchen sich regelmäßig. Bedauerlich, dass es mit dem Besuch ausgerechnet an Pippis (und Karins) Geburtstag nicht klappt. Denn gerade das ungewöhnliche Mädchen, das als schlechtes Vorbild galt und von Pädagogen jahrelang abgelehnt wurde, war Wegbereiterin für den heute erfolgreichen deutschen Kinderbuchverlag. Friedrich Oetinger, eigentlich auf Wissenschaftsbücher spezialisiert, war es damals egal, dass Pippi als „unmoralisch, krankhaft und der Fantasie einer Irren entsprungen“galt – er verliebte sich sofort in die freche Göre, die ganze Sahnetorten isst und barfuß auf Zucker läuft. Der Verleger adoptierte Pippi und nahm sie in ein Land mit, in dem Kinder kurz zuvor noch braune Uniformen getragen hatten.
Ein großer Volvo hält vor dem Haus, Maria Persson, die in den Pippi-Filmen Annika spielte, und Per Sundberg, der Tommy verkörperte, steigen aus und winken schon von Weitem. Pippi strahlt übers ganze Gesicht, sind die beiden doch ihre besten Freunde, obwohl die Film-Geschwister sich so sehr von ihr unterscheiden, wohlerzogen und fast schon ein bisschen spießig sind. Maria alias Annika und Karin liegen sich gleich in den Armen. In vielen Interviews hat Karin nämlich verraten, dass in ihr viel mehr Annika als Pippi steckt. Per alias Tommy trägt, wie es sich für so einen Anlass gehört, Anzug und Krawatte und schaut seine rothaarige Freundin wie immer bewundernd an. Hat diese Frau doch viel mehr Mut bewiesen als jeder Mann, den er im Laufe seines Lebens kennengelernt hat. Ohne lange suchen zu müssen, finden Annika und Tommy den alten Limonadenbaum, der natürlich auch heute frische Getränke für alle bereithält. Herr Nilsson macht es sich auf Annikas Schulter bequem, der Kleine Onkel genießt die Streicheleinheiten von Tommy. Schnell kommt das Gespräch auf Fräulein Prüsselius. „Wisst ihr noch, wie mich die Prusseliese ins Heim stecken wollte und welche Streiche wir ihr gespielt haben?“, fragt Pippi und alle halten sich vor Lachen den Bauch.
Inger Nilsson fällt mit ein. Sie hat Pippi eine bunt verzierte Kindertorte mitgebracht („Für mich wird Pippi immer neun Jahre alt bleiben.“) und wünscht ihr zum 75. vor allem, dass sie ihre Unbekümmertheit behält. Auch Inger ist bereits im Seniorenalter, auf der Straße wird die Schauspielerin nur noch selten erkannt. Dabei war sie das Pippi-Gesicht schlechthin, verkörperte sie doch in den Filmen das Mädchen, das die Welt so macht, wie sie ihr gefällt. Mit Per Sundberg und Maria Persson verbindet sie auch im wirklichen Leben eine Freundschaft. Entsprechend herzlich begrüßen sich die drei. Und Pippi? Sie klopft Inger aufmunternd auf die Schulter. Denn sie weiß: Inger hat es nicht einfach gehabt. Manchmal sei es sogar eine Bürde gewesen, für alle immer nur Pippi zu sein, gesteht die heute 61-Jährige am Telefon. „Aber eigentlich finde ich es richtig toll, bei etwas dabei gewesen zu sein, das auch in diesen Zeiten noch trägt. Darum lasst uns jetzt feiern.“
Doch halt, ein Gast fehlt noch! Björn Ulvaeus, einer der beiden Bs von ABBA. Als er am Gartentor auftaucht, scheint er mächtig aufgeregt zu sein. Ist es heute für den 75-Jährigen doch das erste Mal, dass er seine Jahrgängerin trifft. „Für mich war sie als Kind eine Heldin, und ich glaube, das war sie für fast alle in meiner Generation“, sagt er. Respektvoll schüttelt er Pippi die Hand und überreicht ihr eine Einladung – für die Uraufführung des Musicals „Pippi im Zirkus“, das er zusammen mit seinem früheren ABBA-Kollegen Benny Andersson geschrieben hat und das im Sommer in Stockholm Premiere feiert.
Apropos feiern: Höchste Zeit, dass die Geburtstagsparty in Schwung kommt! Und wie funktioniert das am besten? Natürlich mit dem Spiel „Nur nicht den Boden berühren“.