Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Bregenz will ein neues Gesicht
Vorarlbergs Hauptstadt plant ein Quartier inklusive Bahnhof am Bodensee – Manchen Bürgern geht die Modernisierung aber nicht weit genug
BREGENZ - Auto steht neben Auto, ganze Blechreihen heizen sich in der Maisonne auf. Asphalt geht ungeordnet in Pflastersteine über. Von Passanten ignorierte Werbeplakate verstellen den Blick. Heruntergekommene Sträucher versuchen etwas Grün in die Tristesse zu bekommen. So präsentiert sich Bregenz, wo es eigentlich am schönsten sein könnte – und wo der örtliche Bodenpreis am höchsten ist. Ein öder Großparkplatz bietet sich dar, der komplette Gegensatz zum Glanz, den die Vorarlberger Hauptstadt in Festspielzeiten gerne mit der berühmten Seebühne am Bodensee verstrahlt. „Das ist ein Schandfleck“, meint Isin Makbule, Inhaberin eines benachbarten Kleiderladens, mit Blick auf die Autoabstellfläche. „Da sollte schnell etwas gemacht werden.“
Dass die Bewahrung des Istzustandes die schlechteste aller Lösungen wäre, wird in der 30 000Einwohner-Stadt von vielen so gesehen – zumal sich an den Parkplatz der heruntergekommene Bahnhof für Busse und Bahnen anschließt. Alles Sanierungsgebiet in bester Lage. Die Stadtverwaltung hat hierfür auch schon schöne Namen gefunden: Seestadt für den Parkplatz, Seequartier für Bahnhof und Bushaltestellen.
Zwar plätschern die Bodenseewellen nicht direkt dorthin, es reichen aber einige Gehminuten bis zum Ufer. Und von den oberen Etagen der ins Auge gefassten mehrstöckigen Gebäude würde der Blick weit übers Wasser bis hinüber ins bayerische Lindau gehen. Es müsste aber eben erst gebaut werden. „Eigentlich glaube ich da nicht mehr so richtig daran“, meint Ladenchefin Makbule leicht genervt. Ihre Zweifel haben einen ernsten Hintergrund: Nach ersten Absichtserklärungen in den 1990erJahren existieren bereits seit 2009 konkrete Überlegungen, was aus diesen knapp 30 000 Quadratmeter großen Sanierungsgebieten werden könnte. Außer kommunalpolitischem Streit und in den Sand gesetzten Planungen ist jedoch nichts geschehen.
Vergangenes Jahr gab es aber einen Grundsatzbeschluss vom Land Vorarlberg, den Österreichischen Bundesbahnen und der Stadt Bregenz, den schäbigen Bahnhof aus dem Jahr 1989 tatsächlich zeitnah durch einen Neubau zu ersetzen. Dessen nun festgelegte Gestalt mit einem architektonisch anspruchsvollen Zeltdach gibt Planungssicherheit für die angrenzende Seestadt und das Seequartier. Seitdem wird auch deren Entwicklung vorangetrieben – ganz nach dem Motto: Wenn schon gebaggert wird, dann im großen Stil.
Wie zu hören ist, laufen hinter den Kulissen intensive Verhandlungen zwischen Stadt und den Bauherren, privaten Projektentwicklern und Baufirmen. Bernhard Ölz, Vorstand der Prisma Holding AG und Projektpartner bei der Seestadt, bestätigt dies. Die Gespräche sind heikel. Immerhin geht es um mehrere Hundert Millionen Euro an Investitionskosten. Noch im Winter hatte es so ausgesehen, als ob bei einer raschen Übereinkunft bereits im Herbst mit dem Bau der Seestadt hätte begonnen werden können. Doch die CoronaKrise hat zu Verzögerungen geführt.
Immerhin ist im Großen und Ganzen klar, was entstehen soll. Auf seit Jahren bekannten Plänen sind vorgesehen: der neue Bahnhof, dazu ein Dutzend hoch aufragende Gebäude mit Läden, Büros, Wohnungen, Kneipen und eventuell einem Hotel. Für Autos ist eine Tiefgarage geplant. Ein großer Wurf soll es eben sein. Als die Planungen vor einem Jahrzehnt begannen, begriffen begeisterte Bürger sie sogar als Chance, „Bregenz neu zu erfinden“. Euphorie machte sich breit. Wobei es um wesentlich mehr als nur um Seestadt oder -quartier ging. Der Gedanke war, dass das Großprojekt auch Bewegung in eine seit langer Zeit verfahrene Angelegenheit bringen könnte. Sie hat mit einer teilweise tiefgehenden Unzufriedenheit der Bregenzer zu tun. Es handelt sich dabei um die Verbindung der Altstadt zum Bodensee, beziehungsweise zur idyllischen Seepromenade.
Hinüber kommt man derzeit bloß mittels Bahn- und Straßenübergängen oder Unterführungen. Schienen sowie das vierspurige Asphaltband einer Hauptverkehrsader schneiden historische Gässchen vom Ufer ab. „Bregenz liegt derzeit nicht am Bodensee, sondern an der Bundesbahn“, schimpft Wilfried Ludwig Weh, Rechtsanwalt und langjähriger Bürgeraktivist für Fragen der Bregenzer Stadtentwicklung.
Für Außenstehende erschließt sich der Zusammenhang zwischen Seestadt, Seequartier, neuem Bahnhof und der Bregenzer Abtrennung vom Bodensee nicht sofort. Die Erklärung ist aber simpel. Weh sagt, wenn schon großräumig im Sanierungsgebiet gebaut werde, könne in diesem Zuge die Misere der Bahntrassenund Straßenführung ebenfalls bereinigt werden. In der Tat ist die Lage der Verkehrsrouten alles andere als glücklich. Wobei dies nur ein Teil der Misere ist. Zum See wird die Altstadt nicht nur durch Gleise und Straße abgeschlossen, sondern auch durch Gebäudekolosse: das Kunsthaus, das Landestheater, das Landesmuseum. Deren Schauseiten zeigen Richtung Zentrum, vor allem zum beschaulichen Kornmarkt hin. Die weniger ansehnlichen Rückseiten weisen zum Wasser. Spötter sagen deshalb manchmal, „Bregenz zeigt dem Bodensee seinen Hintern“.
Die meisten Seestädte haben es da besser. Selbst das badische Konstanz, das eine ähnliche Abtrennung seines alten Kerns vom Hafen durch Straße und Eisenbahn kennt, wirkt ufernäher – vielleicht deshalb, weil Gassen sowie Häuserfronten dorthin ausgerichtet sind. Historisch gewachsenes Architekturglück.
In Bregenz fing hingegen die Malaise mit der Fertigstellung der Eisenbahnlinie Lindau-Bludenz 1872 an. Die Schienen waren dort verlegt worden, wo Platz war: entlang des Seeufers. Dass künftig das Wohlgefühl promenierender Bürger oder Touristen gestört werden könnte, kam den Bahningenieuren seinerzeit sicher nicht in den Sinn. Schienen verkörperten Fortschritt, Bahnhöfe waren das Tor zur Welt. Aber wohl schon 1907 gab es einen Beschluss der Stadtvertretung, die Schienentrasse vom See weg zu verlegen. Passiert ist nichts.
Später hätte es sogar noch schlimmer kommen können. In den 1960er-Jahren drängte die österreichische Bundesregierung darauf, die neue Autobahn nach Deutschland entlang der Bregenzer Bahnlinie zwischen Stadt und See zu führen – rückblickend eine Alptraum-Idee. Der Seezugang wäre unwiederbringlich ruiniert gewesen. Die Uferautobahn hätte dem Staat aber den teuren Pfändertunnel erspart. Erst heftige Bürgerproteste führten zu dessen Bau und der Verlegung der Autobahntrasse.
Am besten wäre es doch, wenn auch der unschöne Schienenstrang unter der Erde verschwinden würde, so heißt es immer wieder in Bregenz. Einer der Hauptbefürworter ist die private Bürgergenossenschaft „mehramsee“, eine Art Bürgerinitiative. Ihre Lieblingsidee: ein Tunnel vom Bregenzer Bahnhof bis fast zur bayerischen Grenze unter dem Pfänder durch. 2003 wurde in einer Machbarkeitsstudie ein Kostenrahmen von 650 Millionen Euro errechnet – damals zu teuer für die staatseigenen Österreichischen Bundesbahnen. Jetzige Schätzungen liegen übrigens bei bis zu zwei Milliarden Euro.
Pius Schlachter aus dem Vorstand von „mehramsee“geht aber davon aus, „dass sich der mehrgleisige unterirdische Ausbau der Schieneninfrastruktur im Großraum Bregenz“rentieren würde. Er verweist auf den steigenden Zugverkehr – zumal die gegenwärtige vollständige Elektrifizierung der Strecke München-Bregenz-Zürich in ihrem deutschen Abschnitt einen engeren Takt bringen würde.
Aber die große Tunnellösung für die Bahn bleibt erst einmal ein ferner Traum – oder ein Hirngespinst, wie jene sagen, die ein solches Projekt wegen der Kosten für illusorisch halten. Aber da ist ja noch die vierspurige Seestraße, erst vor rund 25 Jahren in der jetzigen Form ausgebaut. Wenigstens sie könne ein Stück weit unter der Erde verschwinden und so den Seezugang freundlicher machen, fordert ein Teil der Bregenzer. Die Idee dabei: Bei der Seestadt würde laut Plan eine Tiefgarage entstehen, man gehe also eh schon in die Tiefe.
Und von der tiefer gelegten Straße könne es eine direkte Zufahrt zu den Parkplätzen geben.
Zum lautstärksten Verfechter dieser Vorstellungen hat sich der sozialdemokratische Bürgermeisterkandidat Michael Ritsch entwickelt. „Ich halte eine Unterflurführung auf 900 Metern für machbar“, attestiert er. Der Kommunalpolitiker will damit sagen, die ungeliebte Straße könne an der Seeseite der Altstadt aus dem Sichtfeld der Menschen verschwinden. Der Preis dafür liege bei 100 Millionen.
Mit der sogenannten Unterflurtrasse ist Ritsch hoch emotional im Winter in den Kommunalwahlkampf gestartet. Wegen der CoronaKrise wurde die für März vorgesehene Abstimmung jedoch auf September verschoben. Die Debatte ist ein wenig eingeschlafen. Dies dürfte wiederum dem amtierenden Bürgermeister Markus Linhart recht sein.
Das konservative, seit 22 Jahren im Amt befindliche Stadtoberhaupt hält das Tieferlegen der Straße schon aus praktischen Gründen für sehr fragwürdig – etwa weil für insgesamt drei Zufahrten zu der unterirdischen Trassenführung gewaltige Rampen nötig seien. „Bis zu 140 Meter müssten sie lang sein. Dies wären richtige Schluchten in der Stadt“, erklärt Linhart. „Keine Schönheit“, lautet sein Kommentar.
Des Weiteren verweist er darauf, dass eine solche Röhre – anders als eine offene Straße – bei Unfällen komplett zu sei. Umfahren ließe sich der Abschnitt höchstens über die nahe Fußgängerzone. „Das“, betont Linhart, „möchte man sich gar nicht vorstellen.“Er erinnert zuletzt noch daran, dass eine Unterflurtrasse auch nicht Gegenstand der städtischen Planungen sei. Bei der Seestraße handle es sich um eine Landesstraße.
Was Linhart aber letztlich will, ist eine Konzentration auf Seestadt, Seequartier und Bahnhof. Die Gegenseite, also die Tunnelfraktion, kann sich hingegen eine Volksabstimmung vorstellen. Ziel solle sein, den Bahnhofsneubau in den jetzigen Planungen zu kippen. Käme es dazu, müsste wohl auch bei Seestadt und Seequartier bei null angefangen werden.
Bregenz würde sich also nicht neu erfinden, sondern den jetzigen Zustand verlängern. Wofür es übrigens auch Anhänger gibt, etwa Jasmin Subasic. Sie betreibt einen roten Kiosk auf dem Großparkplatz, der einst zur Seestadt werden könnte. Hamburger und Pommes gibt es hier – sowie Geschimpfe auf das Großprojekt: „Toll würden die Häuserblocks schließlich nicht aussehen. Die Stadt soll doch einfach alles lassen wie es ist.“Ihr Vorteil dabei: Das Geschäft mit den Hamburgern würde weitergehen.
„Bregenz liegt derzeit nicht am Bodensee, sondern an der Bundesbahn.“
Wilfried Ludwig Weh, Rechtsanwalt und Aktivist