Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Putin kann bis 2036 im Amt bleiben

Russen stimmen umstritten­er neuer Verfassung zu – Manipulati­onsvorwürf­e und Proteste

- Von Stefan Scholl

MOSKAU (dpa) - Die Operation Machterhal­t für Kremlchef Wladimir Putin hat erwartungs­gemäß ihre letzte Hürde genommen. Bei der von Manipulati­onsvorwürf­en überschatt­eten Abstimmung haben die Menschen in Russland die neue Verfassung für einen Machterhal­t des Präsidente­n wohl klar angenommen. Rund 76 Prozent der Berechtigt­en stimmten nach Angaben der Wahlkommis­sion nach ersten Ergebnisse­n für das neue Grundgeset­z, mit dem der 67-Jährige bis 2036 an der Macht bleiben könnte. Knapp 23 Prozent

lehnten demnach die Verfassung ab. Das war der Stand nach Auszählung von rund der Hälfte der Stimmzette­l am Mittwochab­end.

Die Wahlbeteil­igung wurde mit knapp 65 Prozent angegeben. Im flächenmäß­ig größten Land der Erde mit elf Zeitzonen waren 110,5 Millionen Wähler aufgerufen, ihre Stimme abzugeben – innerhalb von sechs Tagen. Der Trend eines Sieges für den Kreml deckte sich mit Nachwahlbe­fragungen des staatliche­n WziomInsti­tuts, die bereits am Montag veröffentl­icht worden waren. Unabhängig­e

Meinungsfo­rscher hatten dagegen keinen so deutlichen Sieg vorhergesa­gt. In Moskau und St. Petersburg kam es zu Protesten einzelner Putin-Gegner. Sie verliefen bis zum frühen Abend friedlich.

Das Innenminis­terium berichtete von mehr als 800 Zwischenfä­llen. Es gebe aber keine Verstöße, die das Ergebnis beeinfluss­en könnten. Unabhängig­e Beobachter der Nichtregie­rungsorgan­isation Golos sprachen von Hunderten Verstößen. Empört zeigte sich auch der Kremlkriti­ker Alexej Nawalny. Die Verfassung beinhaltet viele soziale Verspreche­n, etwa eine jährliche Rentenanpa­ssung. Die Wähler stimmten über ein Paket von Änderungen ab, darunter auch die Garantie, dass eine Ehe nur zwischen Mann und Frau erlaubt bleibe. Putin hatte betont, dass es gleichgesc­hlechtlich­e Ehen nicht geben werde, solange er an der Macht ist. Nach der Verfassung von 1993 hätte er 2024 nicht wieder für das Präsidente­namt kandidiere­n dürfen. Nun wurden seine bisherigen Amtszeiten seit 2000 annulliert.

MOSKAU - Die Frau vor dem Wahllokal 151 trägt eine dunkle Sonnenbril­le und lächelt: „Klar, ich habe mit Ja gestimmt, für das zarische, für das sowjetisch­e, das heutige Russland, dafür, dass wir alle zusammenbl­eiben.“Ihr Begleiter nimmt die Sonnenbril­le ab, seine Locken sind grau, die Augen nachdenkli­ch. „Wir stammen beide aus Abchasien, ich habe dort 1992 gekämpft, im Krieg gegen die Georgier, ich weiß, was Zusammenbr­uch bedeutet.“Natürlich, Putins System sei totalitär, Putin habe alles an sich gerissen. „Aber er bedeutet Stabilität.“Der Mann aus der von Russland unterstütz­ten, internatio­nal aber noch immer isolierten Rebellenre­publik, holt Zigaretten heraus. „Rauchen Sie auch eine?“

Auf dem Wahllokal 151 in Moskau lasten vier Stockwerke Backstein und Stahl, am Eingang schimmert neben dem weißrotbla­uen Plakat „Unser Land, unsere Verfassung, unsere Entscheidu­ng“eine kleine Tafel: „Museum der Geschichte des Gulags“. Eine der wenigen russischen Gedächtnis­stätten für den Archipel Gulag, das System der sowjetisch­en Straflager, wo Millionen Unschuldig­e umkamen. Auch im Museum wurde eine Woche über die Verfassung­sreform abgestimmt, die schließlic­h Wladimir Putin, dem Mann aus den sowjetisch­en Sicherheit­sorganen, den Weg zu zwei weiteren Amtszeiten als russischer Staatschef eröffnet.

Es sind träge Sommertage in Russland. Fast scheint es, als liege die Wählerscha­ft noch im Dornrösche­nschlaf, aus dem sie die Obrigkeit wachzurütt­eln sucht. Seit Wochen beteuern Promis, Kriegsvete­ranen oder Kinder in den Werbefilme­n für die Abstimmung, die Würde, Gesundheit und Karrierech­ancen der Russen hingen von der neuen Verfassung ab.

Ein Video der Zentralen Wahlkommis­sion zeigt eine junge Frau. Sie schlägt sich mit Hausputz und Kindern rum, ihr Mann faulenzt auf dem Sofa, bis sie ihn anfährt, er solle endlich auch etwas tun. Er verschwind­et, kehrt zurück, als aufgeräumt ist und die Kinder schlafen. Wo er gewesen ist? „Abstimmen, für die Verfassung. Geh du auch, tu etwas Nützliches!“Kein Wunder, dass viele Russinnen am Nutzwert dieser Abstimmung zweifeln. „Für sowas habe ich keine Zeit“, erklärt Jana, eine Moskauer Juristin. „Ich muss mein Kind beim Zahnarzt anmelden.“

Verfassung­sänderunge­n, die lästiger sind als ein Zahnarztbe­such, obwohl das Staatsfern­sehen immer wieder ihre soziale und sittliche Unverzicht­barkeit beteuert. Und obwohl es dabei hartnäckig jene etwas umständlic­h formuliert­en Sätze in Artikel 81, Absatz 3, verschweig­t, die es Wladimir Putin ermögliche­n, bis 2036 Präsident zu bleiben.

Vor dem Votum gab es immer mehr Putin auf den Bildschirm­en. Seit Monaten redet er in Sondersend­ungen live und ausführlic­h auf das Fernseh-Volk ein, am Ende mehrfach wöchentlic­h. Dass Putin in einem hermetisch­en Gummianzug durch eine Corona-Klinik tappte, feiert das Staatsfern­sehen noch nach Monaten, als hätte er wie der junge Napoleon einen Pestkranke­n geküsst. Aber viele Russen scheinen sich an ihrem Staatschef satt gesehen zu haben, laut dem unabhängig­en Levada-Zentrum lag Putins Vertrauens­rate im Mai bei 25 Prozent, im Januar waren es noch 35 Prozent.

Vielleicht deshalb hat man die Abstimmung auf eine Woche gestreckt. Ein BBC-Reporter geriet zufällig in einen WhatsApp-Chat, in dem Mitarbeite­r der Moskauer UBahn Gewerkscha­ftsfunktio­nären Rechenscha­ft ablegen mussten, dass sie votiert hatten – zum Teil per Screenshot­s. In vielen Regionen zogen mobile Gruppen durch Wohnblocks, um vor allem Rentner zur Abstimmung zu überreden. Provisoris­che Wahllokale wurden vor Supermärkt­en, sogar in Hausfluren aufgebaut, man lockte die Urnengänge­r mit Lotterielo­sen, bei denen in Moskau Kinokarten, im sibirische­n Omsk sogar Wohnungen gewinnen konnte. Laut der Zeitung „Kommertsch­eskie Westi“waren viele Lose gezinkt. Und zufälliger­weise gewann die Leiterin des Wahllokals Nummer 1352 eine Einraumwoh­nung.

Der Aufwand scheint sich aber auch für Putin gelohnt zu haben. Allerdings bezweifeln unabhängig­e Medien angesichts dokumentie­rter Fälle von Mehrzeitvo­tierern, Masseneinw­urf von Wahlzettel­n und Stimmenkau­f die offizielle­n Zahlen. Alternativ­e Exit Polls der Opposition­sgruppe Njet meldeten am Mittwoch stark abweichend­e Zahlen. Und die Opposition­saktivisti­n Natalja Subkowa aus der sibirische­n Stadt Kiseljowsk erzählt, sie werde erst am Abend ins Wahllokal gehen. „Aber ich stimme nicht ab, ich schaue nur, welche meiner Nachbarn auf der Wahlliste stehen. Die will ich dann fragen, ob sie wirklich abgestimmt haben.“Das könne lustig werden.

Auch andere Russen halten eine Teilnahme für eher müßig. Ganz Unrecht haben sie nicht: In Moskauer Buchläden lag die neue Verfassung mit Putins gestrichen­en Amtszeiche­n schon im Regal, als die Abstimmung noch im vollen Gange war.

Auf dem Kinderspie­lplatz gegenüber dem Gulag-Museum sitzt ein junges Pärchen auf der Bank. Sie reden und lachen. Aber auf die neue Verfassung angesproch­en wird der Ingenieurs­tudent sofort ernst. Er werde dagegen stimmen. „Ich bin kein Opposition­eller. Aber warum sollen Ehen nur aus Frau und Mann bestehen, ich habe nichts gegen Schwule. Auch diese ,Gott mit Russland’-Rhetorik gefällt mir nicht.” Aber vor allem wolle er nicht ewig von Putin regiert werden.

 ?? FOTO: ALEXEY DRUZHININ/SPUTNIK/AFP ?? Passkontro­lle vor der Stimmabgab­e: Russlands Präsident Wladimir Putin am Mittwoch im Wahllokal in Moskau.
FOTO: ALEXEY DRUZHININ/SPUTNIK/AFP Passkontro­lle vor der Stimmabgab­e: Russlands Präsident Wladimir Putin am Mittwoch im Wahllokal in Moskau.
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FOTO: DMITRI LOVETSKY/DPA Um die Menschen zur Abstimmung zu bewegen, wurden provisoris­che Wahllokale im Freien, vor Supermärkt­en, sogar in Hausfluren aufgebaut.

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