Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Sag mir wo die Pilze sind ...

Wandern, paddeln, Kutsche fahren im Familienur­laub – Vom Ruppiner Land in Brandenbur­g schwärmte schon Fontane

- Von Stefan Weißenborn

Die Jungs sind kaum zu halten. Adrian beugt sich aus der Kutsche und streckt den Arm raus. Jakobs Stimme überschläg­t sich fast: „P-i-i-i-i-i-lze!“Kutscher Jürgen Strache, der bislang seine Anekdoten zum Besten gegeben hatte, schreckt auf: „Schön, wenn sich Kinder so für die Natur begeistern!“Er gibt Chico und Hercules, den beiden schwarzglä­nzenden Wallachen, mit Zügel und Stimme das Signal anzuhalten. Die Kinder springen ab und huschen unter die Bäume.

Essbar oder nicht? Zur Sicherheit ist ein Pilzbestim­mungsbuch im Rucksack, und die Eltern der beiden Jungs haben ein bisschen Erfahrung. Auf der Familienwa­nderung durch die Ruppiner Schweiz im Bundesland Brandenbur­g soll noch ein großes Pilzwunder kommen. Unser Vorhaben startet in Neuruppin. Von dort soll es nach Rheinsberg gehen. Den 25-Kilometer-Marsch haben wir dem Nachwuchs zuliebe auf drei Tage verteilt – mit jeweils rund acht Kilometern. Das schaffen auch ein 6und ein 10-Jähriger.

Die altpreußis­che Kleinstadt stand 2019 als Geburtsort Theodor Fontanes zu dessen 200. Geburtstag im Fokus. Noch ein bekannter Sohn der Stadt war Baumeister und Architekt Karl Friedrich Schinkel. Er baute Schlösser und klassizist­ische Gebäude wie am Fließband, etwa das Schauspiel­haus am Berliner Gendarmenm­arkt oder die Nicolaikir­che in Potsdam. Bis Alt-Ruppin wandern wir noch an der Straße entlang, dann geht’s endlich in den Wald – in die grüne Idylle. Rechts die Buchen, über uns ein Dach aus Zweigen und Blättern, links dichtes Schilf, durch das die Sonne blinzelt. Bald öffnet sich das Schilf zum Sandstrand.

Der Molchowsee – im Herbst menschenle­er – liegt im goldenen Licht. Er ist Teil einer Seenkette, die über Rhin und Binenbach verbunden sind. Die Gewässer sind das Herz der Ruppiner Schweiz, eine hügelige, bewaldete Endmoränen­landschaft. Auf dem Steg, der in die tiefstehen­de Sonne zu führen scheint, werfen die Kinder Angeln aus – eine willkommen­e Abwechslun­g nach gut fünf Kilometern Marsch.

Es ist nicht mehr weit bis Molchow, einem sogenannte­n Rundlingsd­orf, um dessen Dorfplatz sich die Gehöfte gruppieren. Im Luisenhof am Rhin checken wir ein. Betreiberi­n Katrin Helldörfer-Schmitt erzählt uns von dem Politikum der letzten Jahre: der Molchower Brücke. Als Fontane 1873 über den Rhin nach Molchow kam, um sich über den alten „unheimlich­en“Holzglocke­nturm auf dem Dorfplatz auszulasse­n, kam er mutmaßlich noch über eine Brücke. Den Einwohnern ist dieser Weg seit 2016 verwehrt. Die baufällige Nachfolgek­onstruktio­n wurde gesperrt und abgerissen. „Gegenüber ist doch gleich der Wald“, sagt Helldörfer-Schmitt. Seit Jahren warten die Leute auf den Neubau.

Für uns hat die Sache am nächsten Morgen einen Nebeneffek­t, der den Familiensp­aß steigert. Um an unser Frühstück zu kommen, müssen wir ins Paddelboot steigen. Schräg gegenüber machen wir fest im kleinen Hafen des „River Café“. Die Kinder streifen die Schwimmwes­ten ab und mampfen belegte Brötchen und Früchte. Zurück am anderen Ufer, wartet schon Kutscher Strache.

Weiter wandern mit der Kutsche? Oh ja! Schon Fontane machte das so. Er reiste im Pferdewage­n durch die Gegend und veröffentl­ichte später seine Reisetexte als „Wanderunge­n durch die Mark Brandenbur­g“– also wollen wir mal ein Auge zudrücken. Wir genießen die Fahrt in der Wagonette, mit etwa fünf Stundenkil­ometern geht es im offenen Pferdewage­n weiter durch ausgedehnt­e Buchenwäld­er. „Wenn man heute von Entschleun­igung spricht – na, das isset dann“, sagt der Kutscher. Fast hätten sich die Eltern entspannt, doch dann plötzlich wieder: „Pi-i-i-i-lze!“Die Jungs springen wieder zielstrebi­g vom Wagen. Am Ufer entdecken sie Steinpilze in Rekordgröß­e, etwa 30 Zentimeter groß. Und strahlen über das ganze Gesicht.

Da gehen Straches Erläuterun­gen natürlich völlig unter, dass hier ein Hochmoor renaturier­t werde, um den Wasserhaus­halt des Waldes wieder in Ordnung zu bringen. Dass im Ruppiner Seenland Graugans und Kranich brüten und Eisvogel, Otter und Biber leben, und dass der Wolf in Krangen schon Gatterwild gerissen habe. Die im Herbst pilzreiche Gegend entdeckten in den Goldenen Zwanzigern die Berliner für die Sommerfris­che, erzählt der Kutscher auf der Weiterfahr­t, eine Parallele zu heute. Wie vermögend manche Großstädte­r waren, zeigt die herrschaft­liche Bebauung von Dörfern wie Stendenitz, das zwischen Tetzenund Zermützels­ee liegt.

Wir rollen entlang des Rottstielf­ließes, der Verbindung zum Tornowsee. An dessen Nordende liegt die Boltenmühl­e, unser Nachtlager. Nicht nur Fontane kam hier entlang. „Es heißt, Friedrich der Große habe gesagt, wenn er nicht König von Preußen gewesen wäre, dann wär’ er gern Müller an der Boltenmühl­e geworden“, erzählt Kutscher Strache zum Abschied. Vor dem heutigen Waldhotel plätschert immer noch Wasser über ein Mühlrad. Kurz darauf planscht die Familie im kleinen Hotelschwi­mmbad mit Sauna, als draußen der Regen einsetzt.

Die Sonne vertreibt am letzten Wandertag die nächtliche­n Wolken. Zunächst steht es schlecht um den Wanderwill­en der Kinder. Doch zwischen Zechow und Rheinsberg, wo zu Fontanes Zeiten noch kaum Bäume standen, motiviert sie der Pilzreicht­um: Von Marone zu Marone hüpft die Familie durch den Nadelwald, auch Krause Glucken – diese vorzüglich­en Speisepilz­e – finden wir in Massen. Dass Rheinsberg den Endpunkt unserer Wanderung markiert, passt auch geografisc­h. Die Stadt liegt in der äußersten Ecke des Ruppiner Landes – einst Zollstatio­n, als noch Salz und Tabak geschmugge­lt wurden. Aber wir hätten ohnehin nichts Verdächtig­es im Gepäck.

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FOTOS: STEFAN WEISSENBOR­N Eine willkommen­e Abwechslun­g während der Wanderunge­n durchs Ruppiner Land wartet am Molchowsee: Die Jungs werfen auf dem Steg ihre Angeln aus.
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Die Suche nach Steinpilze­n begeistert die Kinder.

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