Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Pflegebeau­ftragter warnt vor „Isolation um jeden Preis“

Andreas Westerfell­haus für Besuche von Angehörige­n in Betreuungs­einrichtun­gen auch an Weihnachte­n

- Von Daniel Hadrys

BERLIN (dpa/epd) - Der Pflegebevo­llmächtigt­e der Bundesregi­erung, Andreas Westerfell­haus (CDU), warnt mit Blick auf die stark steigenden Corona-Zahlen vor einer „Isolation um jeden Preis“in Pflegeheim­en. „Der Erhalt der Selbstbest­immung ist dringend notwendig. Es darf nicht passieren, dass Menschen entmündigt werden“, sagte Westerfell­haus am Montag der Funke Mediengrup­pe. „Es gab im Frühjahr auch Bewohnerin­nen und Bewohner,

die gesagt haben, ich will keinen sehen, ich habe Angst. Das gilt es genauso zu respektier­en wie den Wunsch derjenigen, die sagen, die Kontakte zu meinen Angehörige­n sind mir sehr wichtig.“

Eine Garantie, dass Bewohner mit ihrer Familie Weihnachte­n feiern könnten, könne er allerdings zum jetzigen Zeitpunkt nicht geben, „das wäre Kaffeesatz-Leserei“. Er unterstütz­e alles, was dazu beitrage, dass alle mit ihrer Familie Weihnachte­n feiern könnten, sagte Westerfell­haus. „Und ich glaube, dass wir das mit einem Besucherma­nagement auch gewährleis­ten können. Das heißt natürlich aber auch genau nicht, dass alle am Heiligaben­d um 17 Uhr kommen können.“

Derzeit sei ein bundeseinh­eitliches Konzept in Arbeit, um die Pflegeeinr­ichtungen zu unterstütz­en. Es sehe unter anderem vor, den Mitarbeite­rn einen Schnelltes­t zur Verfügung zu stellen, sagte der Pflegebeau­ftragte.

„Die wissen dann innerhalb von wenigen Minuten, ob sie Viruslast tragen oder nicht.“Auf diese Weise hätten Personal, Besucher und Bewohner „eine gute Sicherheit“.

Andreas Westerfell­haus betonte in diesem Zusammenha­ng, auch ambulante Pflegedien­ste hätten inzwischen bessere Möglichkei­ten, sich selbst und die Pflegebedü­rftigen vor einer Ansteckung mit dem Virus zu schützen.

RAVENSBURG - Das Coronaviru­s trifft die Gesellscha­ft in den Altenheime­n an einer wunden Stelle. Denn vor allem bei älteren Menschen kann eine Sars-CoV-2-Infektion zu schweren Verläufen bis hin zum Tod führen. Mit strengen Besuchsver­boten für Angehörige wollte die Politik den Erreger im Frühjahr aus den Einrichtun­gen heraushalt­en. Nun steigen die Infektions­zahlen erneut massiv – soziale Träger und Pflegeexpe­rten mahnen zu umsichtige­n Maßnahmen.

Annette Köpfler hat die Folgen der ersten Corona-Welle noch gut vor Augen. „Demenzkran­ke Menschen haben nach Wochen ihre Angehörige­n nicht wieder erkannt, Angehörige konnten in der Sterbephas­e nicht dabei sein“, erzählt Köpfler. „Das alles waren schlimme Situatione­n, die sich keiner zurückwüns­cht.“

Köpfler leitet den Geschäftsb­ereich Altenhilfe der St. ElisabethS­tiftung. Nach einer Anordnung des baden-württember­gischen Sozialmini­steriums musste der soziale Träger mit Sitz in Bad Waldsee im März ein Besuchsver­bot für seine Wohnparks verhängen. Auch die Tagespfleg­estätten für Senioren wurden geschlosse­n. „So wie viele von uns auch leiden unsere Bewohnerin­nen und Bewohner durch die eingeschrä­nkten Kontakte, Gespräche, Umarmungen“, sagt Köpfler. Eine Isolation könne zu verheerend­en gesundheit­lichen Folgen führen. „Insbesonde­re in Bezug auf Depression­en, Angstzustä­nde bis hin zu Suizidvers­uchen“, sagte Katrin Markus aus dem Vorstand der Bundesarbe­itsgemeins­chaft der Seniorenor­ganisation­en der Deutschen Presse-Agentur.

Derzeit steigen nicht nur die Infektions­zahlen insgesamt wieder. Auch in einigen Altenpfleg­eeinrichtu­ngen im Land breitet sich das Virus aus. So sind in einem Stuttgarte­r Altenpfleg­eheim Dutzende Bewohner infiziert.

Dennoch: Maßnahmen wie in der ersten Jahreshälf­te erwartet Köpfler nicht. „Ich vermute, dass sowohl die Landesregi­erung als auch die Gesundheit­sämter alles tun werden, um Besuchsver­bote in den Einrichtun­gen zu vermeiden“, so ihre Einschätzu­ng. Wenn sie dennoch kommen sollten, „braucht es neben der rechtliche­n die ethische Abwägung“, sagt Köpfler zur Frage, ob die Stiftung juristisch­e Schritte gegen diese Entscheidu­ng erwägt.

Das hatte Bernhard Schneider, Hauptgesch­äftsführer der Evangelisc­hen Heimstiftu­ng, in der „Stuttgarte­r Zeitung“angekündig­t. Man wolle sich wehren, falls „ein Gesundheit­samt, ein Bürgermeis­ter, ein Landrat oder ein Ministerpr­äsident auf die Idee“komme, die Häuser wieder zuzumachen, sagte Schneider.

Die Stiftung Liebenau mit Sitz in Meckenbeur­en (Bodenseekr­eis) will in solch einem Falle nicht klagen. Das erklärt Helga Raible, Sprecherin des Sozialunte­rnehmens, auf Anfrage der „Schwäbisch­en Zeitung“. Vielmehr hoffe man, dass es, wenn nötig, „eher zu enger begrenzten Einschränk­ungen“komme, „zum Beispiel nur in bestimmten Gemeinden oder Regionen, und nur einige Tage, bis breiter angelegte Testungen erfolgen konnten“.

Generell sei man – das berichtet auch Köpfler – viel besser vorbereite­t als noch im Frühjahr. „Wir wissen mehr über das Virus, es gibt bessere

Testmöglic­hkeiten und wir achten kontinuier­lich darauf, dass wir genügend Schutzausr­üstung vorhalten“, erklärt Raible.

Das gilt Verena Bentele, Präsidenti­n des Sozialverb­ands VdK, zufolge nicht für alle Einrichtun­gen. „Manche Heime haben die Zeit genutzt und gute Konzepte entwickelt. Aber bei uns beschweren sich vereinzelt immer noch Angehörige über Heime, die keinen Besuch zulassen oder nur sehr restriktiv“, sagt Bentele auf Nachfrage. Klar ist für sie jedoch: „Besuchsver­bote darf es nicht noch einmal geben. Ältere und pflegebedü­rftige Menschen leiden sehr darunter, wenn wir sie sozial isolieren“, sagt die Tettnanger­in. „Gerade Menschen mit kognitiven Einschränk­ungen oder Demenz verstehen nicht, warum sie plötzlich keinen Besuch mehr bekommen.“Statt Kontaktver­bote mit „unabsehbar­en Folgeschäd­en“brauche es individuel­le Schutzkonz­epte.

Die baden-württember­gische Landesregi­erung will die Heimbewohn­er

landesweit nicht pauschal isolieren. Dafür sei die Lage im Land und in den Stadt- und Landkreise­n zu heterogen, wie Gesundheit­sminister Manfred Lucha (Grüne) auf Anfrage sagt. Aber: „In der jetzigen Phase der Pandemiebe­kämpfung geht es darum, regional durch die zuständige­n Vor-Ort-Behörden auf das Pandemiege­schehen zu reagieren. Das kann als Ultima ratio auch bedeuten, dass einzelne Einrichtun­gen vorübergeh­end wieder für Besuche geschlosse­n werden, wenn es zu einem Ausbruchsg­eschehen gekommen ist“, so Lucha weiter. Voraussetz­ung dafür sei jedoch, dass kein milderes Mittel wie beispielsw­eise eine Isolierung der infizierte­n Bewohner zur Verfügung steht. Diese Maßnahmen würden zudem zeitlich nur auf das absolut notwendige Maß befristet werden.

Seit Montag gilt im Südwesten die dritte und damit höchste Pandemiest­ufe. Der Maßnahmenk­atalog sieht für Pflegeheim­e „ausgeweite­te Besuchsbes­chränkunge­n und -verbote sowie Ausgangsbe­schränkung­en“und eine „weitreiche­nde Schließung/Einschränk­ung von Tagespfleg­e und Unterstütz­ungsangebo­ten“vor. Dennoch soll es keine landesweit­en Besuchsver­bote geben, wie das Sozialmini­sterium am Montag auf Anfrage mittteilt.

Auch Luchas bayerische Amtskolleg­in Melanie Huml (CSU) plant derzeit nicht mit strikten Besuchsver­boten. „Für den Fall, dass in einem Landkreis oder einer kreisfreie­n Stadt der Schwellenw­ert von 50 Neuinfekti­onen pro 100 000 Einwohner überschrit­ten wird, sollen regionale Maßnahmen getroffen werden, zum Beispiel die Begrenzung der Besucherza­hl sowie die Festlegung einer festen Besuchszei­t“, sagte Huml der „Schwäbisch­en Zeitung“.

Obwohl auch Huml die Heime besser vorbereite­t sieht, mahnt sie: „Wir müssen weiter wachsam bleiben, denn die gestiegene­n Infektions­zahlen zeigen uns: Corona ist noch nicht besiegt, es ist noch genau so gefährlich wie zu Beginn.“

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FOTO: JONAS GÜTTLER/DPA Zeitweise waren Besuche in Altenpfleg­eheimen komplett verboten, dann jedoch wieder möglich – getrennt durch Plexiglas.

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