Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Pflegebeauftragter warnt vor „Isolation um jeden Preis“
Andreas Westerfellhaus für Besuche von Angehörigen in Betreuungseinrichtungen auch an Weihnachten
BERLIN (dpa/epd) - Der Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Andreas Westerfellhaus (CDU), warnt mit Blick auf die stark steigenden Corona-Zahlen vor einer „Isolation um jeden Preis“in Pflegeheimen. „Der Erhalt der Selbstbestimmung ist dringend notwendig. Es darf nicht passieren, dass Menschen entmündigt werden“, sagte Westerfellhaus am Montag der Funke Mediengruppe. „Es gab im Frühjahr auch Bewohnerinnen und Bewohner,
die gesagt haben, ich will keinen sehen, ich habe Angst. Das gilt es genauso zu respektieren wie den Wunsch derjenigen, die sagen, die Kontakte zu meinen Angehörigen sind mir sehr wichtig.“
Eine Garantie, dass Bewohner mit ihrer Familie Weihnachten feiern könnten, könne er allerdings zum jetzigen Zeitpunkt nicht geben, „das wäre Kaffeesatz-Leserei“. Er unterstütze alles, was dazu beitrage, dass alle mit ihrer Familie Weihnachten feiern könnten, sagte Westerfellhaus. „Und ich glaube, dass wir das mit einem Besuchermanagement auch gewährleisten können. Das heißt natürlich aber auch genau nicht, dass alle am Heiligabend um 17 Uhr kommen können.“
Derzeit sei ein bundeseinheitliches Konzept in Arbeit, um die Pflegeeinrichtungen zu unterstützen. Es sehe unter anderem vor, den Mitarbeitern einen Schnelltest zur Verfügung zu stellen, sagte der Pflegebeauftragte.
„Die wissen dann innerhalb von wenigen Minuten, ob sie Viruslast tragen oder nicht.“Auf diese Weise hätten Personal, Besucher und Bewohner „eine gute Sicherheit“.
Andreas Westerfellhaus betonte in diesem Zusammenhang, auch ambulante Pflegedienste hätten inzwischen bessere Möglichkeiten, sich selbst und die Pflegebedürftigen vor einer Ansteckung mit dem Virus zu schützen.
RAVENSBURG - Das Coronavirus trifft die Gesellschaft in den Altenheimen an einer wunden Stelle. Denn vor allem bei älteren Menschen kann eine Sars-CoV-2-Infektion zu schweren Verläufen bis hin zum Tod führen. Mit strengen Besuchsverboten für Angehörige wollte die Politik den Erreger im Frühjahr aus den Einrichtungen heraushalten. Nun steigen die Infektionszahlen erneut massiv – soziale Träger und Pflegeexperten mahnen zu umsichtigen Maßnahmen.
Annette Köpfler hat die Folgen der ersten Corona-Welle noch gut vor Augen. „Demenzkranke Menschen haben nach Wochen ihre Angehörigen nicht wieder erkannt, Angehörige konnten in der Sterbephase nicht dabei sein“, erzählt Köpfler. „Das alles waren schlimme Situationen, die sich keiner zurückwünscht.“
Köpfler leitet den Geschäftsbereich Altenhilfe der St. ElisabethStiftung. Nach einer Anordnung des baden-württembergischen Sozialministeriums musste der soziale Träger mit Sitz in Bad Waldsee im März ein Besuchsverbot für seine Wohnparks verhängen. Auch die Tagespflegestätten für Senioren wurden geschlossen. „So wie viele von uns auch leiden unsere Bewohnerinnen und Bewohner durch die eingeschränkten Kontakte, Gespräche, Umarmungen“, sagt Köpfler. Eine Isolation könne zu verheerenden gesundheitlichen Folgen führen. „Insbesondere in Bezug auf Depressionen, Angstzustände bis hin zu Suizidversuchen“, sagte Katrin Markus aus dem Vorstand der Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen der Deutschen Presse-Agentur.
Derzeit steigen nicht nur die Infektionszahlen insgesamt wieder. Auch in einigen Altenpflegeeinrichtungen im Land breitet sich das Virus aus. So sind in einem Stuttgarter Altenpflegeheim Dutzende Bewohner infiziert.
Dennoch: Maßnahmen wie in der ersten Jahreshälfte erwartet Köpfler nicht. „Ich vermute, dass sowohl die Landesregierung als auch die Gesundheitsämter alles tun werden, um Besuchsverbote in den Einrichtungen zu vermeiden“, so ihre Einschätzung. Wenn sie dennoch kommen sollten, „braucht es neben der rechtlichen die ethische Abwägung“, sagt Köpfler zur Frage, ob die Stiftung juristische Schritte gegen diese Entscheidung erwägt.
Das hatte Bernhard Schneider, Hauptgeschäftsführer der Evangelischen Heimstiftung, in der „Stuttgarter Zeitung“angekündigt. Man wolle sich wehren, falls „ein Gesundheitsamt, ein Bürgermeister, ein Landrat oder ein Ministerpräsident auf die Idee“komme, die Häuser wieder zuzumachen, sagte Schneider.
Die Stiftung Liebenau mit Sitz in Meckenbeuren (Bodenseekreis) will in solch einem Falle nicht klagen. Das erklärt Helga Raible, Sprecherin des Sozialunternehmens, auf Anfrage der „Schwäbischen Zeitung“. Vielmehr hoffe man, dass es, wenn nötig, „eher zu enger begrenzten Einschränkungen“komme, „zum Beispiel nur in bestimmten Gemeinden oder Regionen, und nur einige Tage, bis breiter angelegte Testungen erfolgen konnten“.
Generell sei man – das berichtet auch Köpfler – viel besser vorbereitet als noch im Frühjahr. „Wir wissen mehr über das Virus, es gibt bessere
Testmöglichkeiten und wir achten kontinuierlich darauf, dass wir genügend Schutzausrüstung vorhalten“, erklärt Raible.
Das gilt Verena Bentele, Präsidentin des Sozialverbands VdK, zufolge nicht für alle Einrichtungen. „Manche Heime haben die Zeit genutzt und gute Konzepte entwickelt. Aber bei uns beschweren sich vereinzelt immer noch Angehörige über Heime, die keinen Besuch zulassen oder nur sehr restriktiv“, sagt Bentele auf Nachfrage. Klar ist für sie jedoch: „Besuchsverbote darf es nicht noch einmal geben. Ältere und pflegebedürftige Menschen leiden sehr darunter, wenn wir sie sozial isolieren“, sagt die Tettnangerin. „Gerade Menschen mit kognitiven Einschränkungen oder Demenz verstehen nicht, warum sie plötzlich keinen Besuch mehr bekommen.“Statt Kontaktverbote mit „unabsehbaren Folgeschäden“brauche es individuelle Schutzkonzepte.
Die baden-württembergische Landesregierung will die Heimbewohner
landesweit nicht pauschal isolieren. Dafür sei die Lage im Land und in den Stadt- und Landkreisen zu heterogen, wie Gesundheitsminister Manfred Lucha (Grüne) auf Anfrage sagt. Aber: „In der jetzigen Phase der Pandemiebekämpfung geht es darum, regional durch die zuständigen Vor-Ort-Behörden auf das Pandemiegeschehen zu reagieren. Das kann als Ultima ratio auch bedeuten, dass einzelne Einrichtungen vorübergehend wieder für Besuche geschlossen werden, wenn es zu einem Ausbruchsgeschehen gekommen ist“, so Lucha weiter. Voraussetzung dafür sei jedoch, dass kein milderes Mittel wie beispielsweise eine Isolierung der infizierten Bewohner zur Verfügung steht. Diese Maßnahmen würden zudem zeitlich nur auf das absolut notwendige Maß befristet werden.
Seit Montag gilt im Südwesten die dritte und damit höchste Pandemiestufe. Der Maßnahmenkatalog sieht für Pflegeheime „ausgeweitete Besuchsbeschränkungen und -verbote sowie Ausgangsbeschränkungen“und eine „weitreichende Schließung/Einschränkung von Tagespflege und Unterstützungsangeboten“vor. Dennoch soll es keine landesweiten Besuchsverbote geben, wie das Sozialministerium am Montag auf Anfrage mittteilt.
Auch Luchas bayerische Amtskollegin Melanie Huml (CSU) plant derzeit nicht mit strikten Besuchsverboten. „Für den Fall, dass in einem Landkreis oder einer kreisfreien Stadt der Schwellenwert von 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner überschritten wird, sollen regionale Maßnahmen getroffen werden, zum Beispiel die Begrenzung der Besucherzahl sowie die Festlegung einer festen Besuchszeit“, sagte Huml der „Schwäbischen Zeitung“.
Obwohl auch Huml die Heime besser vorbereitet sieht, mahnt sie: „Wir müssen weiter wachsam bleiben, denn die gestiegenen Infektionszahlen zeigen uns: Corona ist noch nicht besiegt, es ist noch genau so gefährlich wie zu Beginn.“