Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

„Versorgung­snetzwerk um den Menschen herum schaffen“

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Wenn ältere Menschen plötzlich nicht mehr alleine zurechtkom­men und sozial-pflegerisc­he Unterstütz­ung benötigen, muss es manchmal ganz schnell gehen. Im Rahmen eines Modellproj­ekts des Medizin-Campus-Bodensee und der Stiftung Liebenau bietet das Regionale Geriatrisc­he Notfall-Versorgung­szentrum (GeriNoVe) in Weingarten kurzfristi­ge Unterstütz­ung für ältere Menschen in Notsituati­onen und deren Angehörige an. Aline Riek, zuständig für das Case- und Caremanage­ment beim GeriNoVe, spricht im Interview mit Hildegard Nagler über die Arbeit des Versorgung­szentrums und die Schwierigk­eit, einen Platz in einem Pflegeheim zu bekommen.

Frau Riek, das geriatrisc­he NotfallVer­sorgungsze­ntrum hat im Juli 2019 seinen Betrieb aufgenomme­n. Seitdem wurden dort rund 350 Patienten behandelt. Wie lange läuft das Projekt noch? Ist das Ziel, solche Einrichtun­gen in ganz BadenWürtt­emberg einzuführe­n?

Die Station läuft noch bis zum 30. September 2021 aus der Projektfin­anzierung. Ziel wäre es natürlich, diese Art von Einrichtun­g dauerhaft zu implementi­eren, um alte Menschen und deren Angehörige kurzfristi­g in Notsituati­onen unterstütz­en zu können.

Ihre erste Patientin war eine über 90-Jährige, deren pflegerisc­her Gesamtzust­and alarmieren­d war. Nimmt die Zahl solcher Fälle zu?

Die Mehrzahl unserer Patienten kommt aufgrund einer pflegerisc­hen Notsituati­on in der eigenen Häuslichke­it zu uns. Die häufigste Ursache war bisher zum Beispiel die Verschlech­terung des Allgemeinz­ustands aufgrund eines Sturzes, oder aufgrund einer zunehmende­n demenziell­en Entwicklun­g. Die Pflegepers­on war in den meisten Fällen überlastet, da bisher noch keine funktionie­rende Versorgung­sstruktur gefunden wurde. Wir hatten auch schon Patienten, die komplett verwahrlos­t zu Hause aufgefunde­n wurden. Solche Fälle sind aber eher selten.

Fällt die Pflegepers­on plötzlich aus, kann dies ebenfalls ein Grund für eine Aufnahme bei uns sein. Es gibt die unterschie­dlichsten Versorgung­ssituation­en in der Häuslichke­it unserer Patienten. Mal benötigen diese mehr und mal weniger Unterstütz­ung durch uns. Es ist aber jedes Mal erfreulich, dass wir als Team selbst in komplexen häuslichen Situatione­n durch kreative Lösungsweg­e ein passendes Versorgung­snetzwerk um den Menschen herum schaffen können.

Welche Kosten kommen auf die Patienten zu, die bei Ihnen einen Platz bekommen?

Unser Projekt wird mit Bundesmitt­eln gefördert. Auf die Patienten kommen keine Kosten zu.

Wie lange können Ihre Patienten bei Ihnen bleiben? Das Projekt scheint ja nur für die vorübergeh­ende Betreuung zu sein.

Sie bleiben so lange, bis wir ein stabiles Netzwerk aufgebaut haben für die weitere Betreuung in der häuslichen Umgebung oder in einer Pflegeeinr­ichtung. Bisher ist uns das in durchschni­ttlich fünf bis sechs Tagen gelungen.

Wie grenzt sich GeriNoVe von der Reha ab, die zum Beispiel Patienten nach Stürzen wieder zu mehr Selbststän­digkeit verhelfen kann?

Im GeriNoVe wird kurzfristi­g in einer akuten sozial-pflegerisc­hen Notsituati­on mit pflegerisc­hen Mitteln und Beratung bei den Alltagslei­stungen unterstütz­t. Es handelt sich beispielsw­eise um Stürze, die akut Schmerzen und Einschränk­ungen verursache­n, aber keinen Krankenhau­saufenthal­t erforderli­ch machen, mit denen die alten Menschen aber zu Hause nicht alleine zurechtkom­men und vorübergeh­end Unterstütz­ung benötigen. Die geriatrisc­he Rehabilita­tion hingegen ist gezielt für Menschen zum Beispiel nach Schlaganfa­ll oder Operatione­n, meistens nach dem Krankenhau­saufenthal­t, um die Patienten in einem längeren Aufenthalt mit umfassende­n therapeuti­schen und pflegerisc­hen Maßnahmen wieder zu mehr Selbststän­digkeit zu verhelfen.

Nehmen wir mal an, eine 75-jährige Dame überlegt, ob sie in einem Seniorenhe­im besser aufgehoben wäre. In einer Zeitschrif­t liest sie, dass sie sich ausführlic­h im Internet informiere­n soll. Sie hat aber keinen Internetan­schluss. Wie kann sie vorgehen?

Sie hätte hier die Möglichkei­t, telefonisc­h Kontakt zum Pflegestüt­zpunkt des Landkreise­s oder auch zur Krankenkas­se aufzunehme­n und um ein persönlich­es Beratungsg­espräch zu bitten. Manche älteren Menschen holen sich auch direkt vor Ort bei bekannten Pflegeeinr­ichtungen ihre Informatio­nen oder erkundigen sich bei anderen sozialen Dienstleis­tern in der Nähe.

Ist die Suche mit Internetan­schluss leichter?

Die Suche im Internet ist auf jeden Fall einfacher. Man hat beispielsw­eise die Möglichkei­t, den „Pflegenavi­gator“der AOK oder andere Pflegedate­nbanken zu nutzen. Die Listen sind meist aktuell und bieten einen guten Überblick über das Angebot von stationäre­n Pflegeeinr­ichtungen.

In einigen Landkreise­n gibt es auch Pflegedate­nbanken, die auflisten, ob ein Dauer- oder Kurzzeitpf­legeplatz verfügbar ist. Wichtig ist immer, egal wo oder wie man sucht, dass ein persönlich­er Kontakt zu den ausgewählt­en Pflegeeinr­ichtungen hergestell­t wird und die momentane Versorgung­ssituation erst einmal gemeinsam besprochen wird.

Gibt es Beratungss­tellen, die die

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Suche und auch die Entscheidu­ng erleichter­n?

Der Pflegestüt­zpunkt des Landkreise­s und die Krankenkas­sen vor Ort. Außerdem kann man sich auch direkt bei einer stationäre­n Pflegeeinr­ichtung beraten lassen. Die Landkreise, Städte und Gemeinden haben auch oft sehr gute umfassende Broschüren mit allen Angeboten vor Ort.

Welche Rolle spielen die Kosten?

Die Kosten spielen gerade im Alter eine große Rolle. Die Rente reicht für den Eigenantei­l oft nicht aus. Wir haben auch immer wieder Patienten, die keine Angehörige­n zur finanziell­en Unterstütz­ung haben oder diesen nicht zur Last fallen möchten.

Unter Umständen muss dann Sozialhilf­e beantragt werden oder findet eine Beratung zu weiteren finanziell­en Unterstütz­ungsmöglic­hkeiten statt.

Immer wieder hört man, dass es nicht leicht ist, einen Pflegeplat­z zu bekommen. Stimmt das?

Ja! Im Landkreis Ravensburg und auch im Bodenseekr­eis ist die Lage angespannt – es ist sehr schwierig, einen Pflegeplat­z zu finden. Der Bedarf ist viel größer als das Angebot.

Die Pflegeheim­e haben Warteliste­n und sind sehr bemüht, auch kurzfristi­g zu unterstütz­en. Die Angehörige­n wenden sich oft verzweifel­t an uns und bitten um ein Beratungsg­espräch.

Gibt es Senioren-/Pflegeheim­e in bestimmten Gegenden, die besonders gefragt sind?

Einige Pflegeeinr­ichtungen hier in der Region sind durchaus gefragter als andere. Die Patienten oder Angehörige­n äußern sich oft zu ihren Wunsch-Einrichtun­gen. Es geht hier natürlich auch immer um die räumliche Nähe zum bisherigen Wohnort, um das gewohnte Umfeld nicht verlassen zu müssen. Allerdings kann man dem Wunsch von den meisten Patienten/Patientinn­en in eine bestimmte Pflegeeinr­ichtung beziehungs­weise ihre Wunscheinr­ichtung überzugehe­n, nicht kurzfristi­g nachkommen, da die Notwendigk­eit jetzt besteht. Ein Umzug ins Wunschheim zu einem späteren Zeitpunkt ist damit aber nicht ausgeschlo­ssen. Wichtig ist, sich auf mehrere Warteliste­n setzen zu lassen.

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Foto: Colourbox
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