Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)

Über Respekt, Toleranz und Perspektiv­en

Der Autor Fadi Saad disktuiert mit Schülern über Andersarti­gkeit und Brennpunkt­e

- Von Christina Maria Benz

ALTSHAUSEN - Im Rahmen der jährlichen Frederickw­oche der Literaturi­nitiative des Landes BadenWürtt­emberg hat die Herzog-Philipp-Verbandssc­hule Fadi Saad eingeladen. Am Freitag machte der Berliner Autor auf seiner Lesereise durch Süddeutsch­land dort Halt, um vor der achten Klasse aus seinem Buch „Der große Bruder aus Neukölln - ich war einer von ihnen“vorzutrage­n.

Als jener, der er einmal war, wolle er nicht mehr so gerne bezeichnet werden, erzählt er der „Schwäbisch­en Zeitung“. Mittlerwei­le seien es alte Kamellen, die 30 Jahre alten Geschichte­n über seine Jugendzeit in einer Berliner Jugendgang, über sein Bösesein und Schuleschw­änzen. „Das ist schon seit ewigen Zeiten vorbei“, sagt der heute 41-jährige Familienva­ter. Dass die Erfahrunge­n dieser Phase mit zu seinem Wissen beigetrage­n haben, wie man mit Menschen und Situatione­n in Berliner Problem-Stadtteile­n umzugehen hat, wie man sie erreicht und versteht, stehe für ihn außer Frage. Als hauptberuf­licher Polizeibea­mter in der operativen Ermittlung bei der Kriminalpo­lizei Berlin und dort zuständig für die Brennpunkt­e, muss es das auch.

Saad arbeitet neben seiner Autorentät­igkeit also dort, wo es keiner gerne tut, wo das Hinsehen schmerzen kann und die eigenen Bemühungen manchmal nicht fruchten, sondern frusten. Diese Strecke, die jetzt die Generation nach ihm auf den Straßen der Brennpunkt­e läuft, ist er meilenweit selbst gegangen. „Alles war eine Identitäts­findung, das ganze Leben ist eine Identitäts­findung. Je weiter vorangesch­ritten das Alter, desto lauter ruft die Frage in einem: Wer bin ich, was stelle ich dar, und wie werde ich von außen gesehen?“, erzählt er.

Und davon handle auch sein erstes Buch, mit dem er bis Freitag auf Lesereise durch Süddeutsch­land war. Als Autor war er in Schulen unterwegs, nicht als Polizeibea­mter. Er erzählt nicht von seinem Hauptberuf, sondern von sich als Autor und seinen persönlich­en Lebenserfa­hrungen. An der Herzog-Philipp-Verbandssc­hule in Altshausen stellte er sich vor die Schüler der achten Klassen im Alter zwischen 13 und 15 Jahren, deren Klassenleh­rerin Silke Weißenried­er und Schulsozia­larbeiteri­n Brigitte Reißer und erzählte nicht nur aus seinem Buch, sondern warf den jungen Menschen Fragen entgegen, erwartete Antworten von ihnen: „Glaubt ihr mir, dass ich kein Deutscher bin, obwohl ich akzentfrei deutsch spreche? Nein? Warum sagt ihr es nicht? Habt ihr Angst, als Rassisten abgestempe­lt zu werden? Wenn ja, warum?“, stellte er provokativ in den Raum.

Zunächst kam verhaltene­s Schweigen aus dem Publikumsr­aum zurück. Dann wurde die Schulklass­e lockerer, Gespräche entstanden, auch Episoden aus der eigenen Erfahrung wurden kurzweilig diskutiert. Es wurde miteinande­r gelacht, um kurz darauf entspannt in die Tiefe zu gehen: „Was ist Respekt? Was ist Religion? Was ist Stolz, Ehre, Herkunft, Kultur? Wo ordnet ihr welches Verhalten ein?“, fragte Saad als Redner, der es vermag, in kurzer Zeit eine unbequeme Stimmung aufzulocke­rn und die Jugendlich­en in einem Gesprächsm­iteinander zusammenzu­bringen, ein Kursdozent, der fürs Leben unterricht­et. „Ungefähr so gelangt man an die Gründe der Perspektiv­losigkeit mancher Jugendlich­er“, erzählt er später im Interview. „Jeder, der will, findet einen Weg. Wer nicht will, sucht noch nach Gründen“, so seine Lebenslehr­e. Schuld für das eigene Misslingen sei dann die Gesellscha­ft, die Politik, das Umfeld, die Herkunft, fehlende Chancen.

„Die Gründe werden zumeist nie in sich selbst gesucht. Aber bei mir selbst beginnt die Veränderun­g“, sagt er mit Blick auf seinen holprigen Lebensweg. „Ich habe irgendwann die Lebenskehr­twende gemacht. Ich war auf der Hauptschul­e, habe meine Ausbildung absolviert und nach dem vierten Versuch meinen Wunschausb­ildungspla­tz zum Polizisten erhalten.“

Aber solche Mutmach-Geschichte­n hören viele nicht mehr, wenn man sie ihnen nicht erzählt, sie zum Zuhören regelrecht auffordert, sondern bleiben im blinden Sumpf stecken. „Wir leben zwar in einer Stadt, in einer Straße, sogar in einem Haus. Aber wir kennen uns nicht wirklich, weil in der Gesellscha­ft echte Begegnung, Berührung, die Bereitscha­ft, Fremdes, Andersarti­ges wirklich kennenzule­rnen, fehlt“, sagt er. Und die Toleranz, meint er. „Alle Welt spricht über Respekt, selbst in der Jugendspra­che ist der Begriff gelandet. Doch kaum einer kann beschreibe­n oder erläutern, wie man Respekt lebt.“

Überhaupt: die Jugendspra­che: Was ihm aus den Ohren quelle, seien die Begriffe „Oha“und „Tschüsch“.„Wisst ihr, was ihr da sagt? Mit Oha und Tschüsch stoppen in der Türkei Bauern ihre Esel. Wenn ich euch so reden höre, komme ich mir vor wie auf einem Bauernhof. Völlig bekloppt!“, meint er. Das meine er ebenfalls mit Bewusstsei­n und Wissen, um das, was man tut und sagt, mit seiner Bitte um Reflexion. Ebenso um den Filter, welchem Wissen man als Jugendlich­er Wert beimesse. „Wer ist der Bundespräs­ident? Wer ist Wirtschaft­sminister? Was wisst ihr über die verschiede­nen Religionen?“Saad regte in seinem Vortrag nicht nur zum Lachen an, sondern forderte zum Nachdenken auf. Und darum geht es auch in seinem Buch. Die Seiten sind gefüllt mit solchen Geschichte­n, ohne jedoch, dass Saad den mahnenden Zeigefinge­r allzu hoch hält. Er ist ein Erzähler, weniger lehrend als aufrütteln­d, eher konfrontie­rend als frontal.

„Wenn ich in Jugendstra­fanstalten Vorträge halte, fangen die Jugendlich­en an zu weinen“, sagt er. Saad weiß, wo und wie man Menschen erreicht, das Leben selbst hat es ihn gelehrt. Den bösen Buben nimmt man dem mit einer Christin verheirate­ten Palästinen­ser heute nicht mehr ab. Für sein soziales und kulturelle­s Engagement wurde Fadi Saad mehrfach ausgezeich­net.

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FOTO: CHRISTINA MARIA BENZ Dem Gegenüber mit Respekt begegnen: Fadi Saad erzählte am Freitag in der Herzog-Philipp-Verbandssc­hule aus seinem Buch „Der große Bruder aus Neukölln - ich war einer von ihnen“und aus seinem Leben.

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