Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
„Man muss viel um die Ecke rechnen“
Statistikerin fordert bessere Daten als Entscheidungsgrundlage für Corona-Maßnahmen
BERLIN - Zahlen, Zahlen, Zahlen. In der Pandemie folgt eine Kennziffer auf die nächste. Alle sollen ihren Anteil zur Erklärung der Lage der Nation leisten. Doch Statistiker könnten noch viel mehr zur Bekämpfung des Coronavirus beitragen, wenn man ihnen etwas bessere Daten zur Verfügung stellen würde, kritisiert Katharina Schüller, Geschäftsführerin einer Statistik-Beratungsfirma sowie Vorstandsmitglied der Deutschen Statistischen Gesellschaft (DStatG) im Interview mit Dominik Guggemos. Aus Schüllers Sicht könnten mit relativ einfachen Mitteln Maßnahmen wie der neue Lockdown verhindert werden.
Frau Schüller, wie könnte man Statistikern helfen, die Pandemie besser zu verstehen?
Wichtig wäre, dass wir endlich eine repräsentative Stichprobe vorliegen haben, die die Gesellschaft in allen Punkten gut widerspiegelt. Diese zufällig ausgewählten Menschen sollten wir regelmäßig testen und daraus dann errechnen, wie viele infiziert sind – und wie viele nicht. Das kann man dann relativ einfach auf die Gesamtbevölkerung hochrechnen und hat sehr aussagekräftige Daten. Die Dunkelziffer wäre quasi null.
Sie spielen auf eine sogenannte Kohortenstudie an.
Dafür habe ich schon im März eine Petition gestartet, die immerhin weit über 10000 Unterstützer bei change.org hatte. Getan hat sich nichts. Immerhin bereitet das Robert-Koch-Institut (RKI) jetzt in Kooperation mit dem sozio-ökonomischen Panel eine solche Studie vor.
Was ist aus Ihrer Sicht das statistische Problem an der aktuellen Teststrategie?
Menschen werden aus einem konkreten Grund getestet: weil sie Symptome haben oder in Berufsgruppen mit hoher Gefährdung arbeiten. Das alles gibt keinen Aufschluss über die Verbreitung in der Gesamtbevölkerung.
Man geht ja auch nicht auf einen CDU-Parteitag, um dort eine Wahlumfrage für die Gesamtbevölkerung zu machen.
Richtig. Aber um Maßnahmen zu entwickeln, brauchen wir verlässlichere Daten. Sonst kann man nicht hochrechnen und die wichtige Dunkelziffer nur indirekt bestimmen.
Stichwort Dunkelziffer: Wie hoch ist die bei Corona?
Im Moment gehen wir davon aus, dass sie ungefähr bei drei liegt, also dreimal so viele Menschen infiziert sind als wir positive Tests haben. Zu Beginn der Pandemie lag sie eher beim Faktor 10.
Wie berechnen Sie die Dunkelziffer genau?
Man braucht einen Anhaltspunkt, den man einigermaßen vollständig messen kann, und analysiert dann das Verhältnis zu der Zahl, die einen interessiert. Der Anhaltspunkt sind die Verstorbenen. Die wurden etwa zwei Wochen zuvor positiv getestet. Wir haben eine gewisse Vorstellung, wie hoch die Sterblichkeit ist: zwischen 0,3 und 0,7 Prozent. So kann man zurückrechnen, wie viele Infizierte es in etwa zwei Wochen vorher gab.
Reiserückkehrer kommen einer zufällig ausgewählten Gruppe am nächsten. Sind diese Zahlen für Sie aussagekräftiger?
Das Problem ist, dass auch das keine repräsentative Gruppe ist. Es gibt eine Verzerrung, nur in die andere Richtung. Menschen in Pflegeheimen gehen nicht mehr auf Reisen. Immerhin kann man aus den Reiserückkehrern gewisse Schlüsse über die Altersgruppe der 18- bis 59-Jährigen ziehen.
Eines der Hauptargumente für den neuen Lockdown ist, dass die Gesundheitsämter bei 75 Prozent der Infizierten nicht mehr nachvollziehen können, wo diese sich infiziert haben. Reichen die restlichen 25 Prozent nicht aus, um zielgerichtetere Maßnahmen zu beschließen?
Ich finde die Argumentation nicht klug. Wenn die Statistik über die Orte der Infektion unverzerrt wäre, kann man aus den 25 Prozent hochrechnen. Wenn sie verzerrt sind, woher auch immer das RKI das wissen will, frage ich mich, warum sie seit sechs Monaten die Zahlen veröffentlichen. Ich sehe ehrlich gesagt keinen Grund, warum die Daten in irgendeine Richtung plötzlich erheblich verzerrt sein sollten.
Könnte es sein, dass Menschen, die sich auf privaten Feiern angesteckt haben, ihre Infektion eher verschweigen,?
Das ist reine Spekulation. Aber: Ich halte es für gut möglich, dass diese Zahlen unterrepräsentiert sind. Das wäre aber nur ein Grund mehr, sich noch mehr auf diese Feiern zu konzentrieren und nicht den Gastronomieund Kulturbetrieb herunterzufahren. Wir hatten sechs Monate Zeit, vernünftige Daten über die Ansteckungswege zu erheben. Der richtige Weg ist jetzt nicht, Maßnahmen zu beschließen, von denen wir nur eine unbelastbare Ahnung haben, ob sie wirken.
Wäre die Corona-App eine Möglichkeit, um die Ansteckungen besser zu verstehen?
Ja. Und es wäre aus meiner Sicht auch ein geringerer Eingriff in die Freiheitsrechte, die App oder ein Corona-Tagebuch verpflichtend zu machen.
Wo fehlen gute Daten am meisten?
Was war der Anlass für den Test? War das ein Wiederholungstest oder war es eine neue Person? Wie alt war die Person, hatte sie Symptome? Wenn man das aufschlüsseln würde, könnte man vieles besser verstehen. Im Moment muss man viel um die Ecke rechnen.