Schwäbische Zeitung (Sigmaringen)
Gegründet, enteignet, zurückgeholt
Wie eine Familie aus dem Allgäu nach der Wende um die Strickfabrik ihres Urgroßvaters in Chemnitz kämpfte und das Unternehmen in die Marktwirtschaft führte
RAVENSBURG/LEUTKIRCH - Immer wieder ist Max Merk vor mehr als 30 Jahren aus dem Allgäu nach Berlin gereist. Anfangs unsicher, ob überhaupt Aussicht auf Erfolg bestand. Dann fast verzweifelnd an den bürokratischen Hürden. Der Inhaber eines Autohauses in dem kleinen Städtchen Leutkirch kämpfte um das Erbe seiner Familie – gegen Spekulanten und windige Anwälte und mit einer Behörde, der die Bundesregierung eine große Aufgabe aufgebürdet hatte: die Überführung der Planwirtschaft eines gescheiterten Staates in die Marktwirtschaft. „Die Verhandlungen mit der Treuhand haben meinen Vater viel Kraft gekostet“, erzählt Max Merks Sohn Thomas im Rückblick auf die Wochen, als der Vater in Berlin verhandelte und die Familie in Leutkirch bangte.
Vergessen hatte die Leutkircher Unternehmerfamilie Merk ihr Erbe nie, es lag nur fast vier Jahrzehnte enteignet und unerreichbar hinter dem Eisernen Vorgang, der die Bundesrepublik von der DDR trennte: Das Erbe war die Textilfabrik Bruno Barthel, gegründet 1897 in Rabenstein bei Chemnitz, von der sozialistischen Regierung geführt als Volkseigener Betrieb (VEB) Trikotagen-Kombinat „Polar“. Die Wende, der Fall der Mauer, die Wiedervereinigung änderte alles.
Die Wiedervereinigung hat die Fortsetzung der familiären Unternehmenstradition ermöglicht: Max Merk gelang es, das Unternehmen, das die DDR Anfang der 1950er-Jahre der Familie seiner Ehefrau genommen hatte, wieder zu übernehmen und zu sanieren. Die Textilfabrik Bruno Barthel, die zu Zeiten von Kaiser Wilhelm vor allem Handschuhe produzierte, ist heute ein florierendes deutsches Textilunternehmen. Unter Geschäftsführer Thomas Merk, dem Sohn des Retters und Urenkel des Gründers, produziert der Strickspezialist unter der Marke Maximo vor allem hochwertige Kindermützen.
„Die Rückübertragung war sehr kompliziert. Das Gebäude hat ja uns gehört, es war das Hab und Gut meiner Familie. Daher mussten wir auch nichts dafür bezahlen, aber es war ein Durchstehen, dass man es überhaupt wieder zurückbekommt“, erzählt Thomas Merk. Es war die Zeit der Berater und Anwälte, die ihre Dienste jedem andienten und sich die Betriebe oft selbst unter den Nagel reißen wollten. „Wir hatten auch einen davon, den wir teuer bezahlt haben und der versucht hat, sich das Gebäude anzueignen“, sagt Merk. Im Oktober 1991 waren dann alle Glücksritter abgeschüttelt und alle fehlenden Genehmigungen endlich da.
Das Unternehmen Strickmoden Bruno Barthel hat seinen Sitz noch immer an dem Ort, an dem der Gründer anfing: in Chemnitz. „Als mein Urgroßvater die Textilfabrik gründete, stellte er hauptsächlich dicke Strickhandschuhe für den Winter her, später wurde das Sortiment auf Kragenschoner und Strümpfe ausgeweitet“, sagt Merk. Bis zum Zweiten Weltkrieg habe es allein zwei Dutzend Textilfabriken im Raum Chemnitz gegeben, die wie Bruno Barthel Strickhandschuhe herstellten. Trotz der starken Konkurrenz gehörte Bruno Barthel, der die Fabrik mit seinen beiden Söhnen Hellmut und Walter führte, besonders in den 1920- und 30er-Jahren zu den größten Handschuhproduzenten Sachsens, erzählt Merk über seinen Urgroßvater.
Doch mit dem Ende des Krieges endete auch die Erfolgsgeschichte der Textilfabrik Bruno Barthel – zumindest vorerst. Zuerst quartierten sich die russischen Soldaten in die Villa
Barthel ein, später verstaatlichte die DDR-Führung das Familienunternehmen. „Die Russen verdrängten meine damals ziemlich bürgerliche Familie ins oberste Geschoss, und meine Großmutter musste die Soldaten bedienen“, berichtet Merk aus der Familienhistorie. Wenige Monate nach der Eingliederung der Textilfabrik in das VEB-Trikotagen-Kombinat starb der Unternehmensgründer Bruno Barthel, und die beiden Söhne flüchteten mit ihren Familien in den Westen: Hellmut Barthel nach Varel an der
Nordsee und
Walter
Barthel nach Leutkirch im Allgäu. Während Walter Barthel eine Strumpffabrik aufbaute und seine Tochter Max Merk kennen und lieben lernte, baute Hellmut Barthel die Papier- und Kartonfabrik Varel auf, die nach seinem Tod in eine Stiftung überging. Und die Textilfabrik des Vaters in Chemnitz? Arbeitete an der Planerfüllung der DDR. Jedenfalls bis zur Wende: Sofort nach dem Fall der Mauer reisten die Merks aus dem Allgäu nach Chemnitz – neugierig auf das von Bruno Barthel gegründete Unternehmen. „Die
Berliner Mauer war gefallen, aber die Grenze stand noch, und offiziell gab es auch die Grenzpolizei noch. Mich wollten sie erst nicht durchlassen, weil meine Eltern meinen Kinderausweis vergessen hatten. Ich habe dann einen DDR-Ersatzausweis bekommen und durfte somit auch über die Grenze“, erinnert sich Thomas Merk an die Reise, als er als Zwölfjähriger in den Osten fuhr. Der erste Eindruck war verheerend, noch immer bestimmt Entsetzen die Erinnerung Merks. „Wenn man aus Westdeutschland in die ehemalige DDR gefahren ist, sah man nur heruntergekommene Gebäude und schwarze Fassaden. Da es kein Privateigentum gab, hat sich niemand um den Zustand der Gebäude geschert“, sagt Merk.
In ähnlich marodem Zustand die vom Urgroßvater gegründete Fabrik. Die Bausubstanz sei zwar gut gewesen, doch alle Maschinen veraltet und kaum nutzbar. Wirtschaftlich herrschte Ungewissheit. „Die volkseigenen Betriebe hatten mit der Wiedervereinigung keine Daseinsberechtigung mehr und waren dem Markt völlig ausgesetzt“, sagt Thomas Merk. Der einst blühende Textilstandort war größtenteils verwaist: Von damals 86 Textilbetrieben war in der Zeit nach der Wende nur noch ein kleiner Teil aktiv, darunter das Unternehmen Bruno Barthel – laut Thomas Merk ein Erfolg, der vor allem den Mitarbeitern zu verdanken war.
Abschrecken ließ sich die Familie Merk nicht von der katastrophalen Lage: Die Allgäuer packten an, machten, schafften – gemeinsam mit den bei Bruno Barthel Beschäftigten. „Wir übernahmen mit dem Betrieb zusammen noch 80 Mitarbeiter von VEB Polar und den ehemaligen Entwicklungsingenieur Karl Gries, den meine Familie bis zu seiner Pension als Geschäftsführer einsetzte“, erzählt Merk. „Die ersten drei Jahre waren harte Jahre, weil wir Anschaffungen gemacht haben, obwohl wir noch gar keinen Gewinn erzielten.“
Mit der Neugründung 1991 erweiterte das Unternehmen sein Sortiment – vor allem im Bereich Kinderaccessoires. Und ohne die Leidenschaft für das Unternehmen des Ahnen und die Aufbauarbeit des Schwiegervaters, Großvaters und Urgroßvaters hätte das Unternehmen wohl nicht überlebt. „Meine Großmutter hat damals noch gelebt. Sie hat oft noch die Löhne der Arbeiterinnen aus der eigenen Tasche bezahlt“, erzählt Thomas Merk über die Ehefrau von Walter Barthel.
Doch die Finanzierungsprobleme waren nicht die einzigen Schwierigkeiten in den Aufbaujahren der 1990er. Es tauchten Hindernisse auf, mit denen weder die Merks noch Geschäftsführer Karl Gries gerechnet hatten: Die Wessis hatten keine Lust auf Ossi-Mützen. „Es war nicht einfach, in Westdeutschland mit ostdeutschen Waren Fuß zu fassen. Da ziehe ich noch heute vor Karl Gries den Hut, dass er das geschafft hat, unsere Produkte auch in die Auslagen von Karstadt-Kaufhof, Breuninger und Engelhorn zu bekommen“, erläutert Thomas Merk. Das Unternehmen Bruno Barthel baute seine Vertriebswege aus und die Marke Maximo auf – als Zeichen für deutsche Strickware aus hochwertiger Produktion.
Mittlerweile hat die vierte Generation, der Urenkel von Gründer Bruno Barthel, die Verantwortung für das Familienunternehmen: Vor acht Jahren übernahm der 45-jährige DiplomKaufmann Thomas Merk die Geschäftsführung von Karl Gries und führt seitdem die Textilfabrik. Viel ruhiger ist es nicht geworden – der Leutkircher musste das Unternehmen bereits einmal fast komplett neu strukturieren. Gestartet 2012 mit einem Jahresumsatz von rund 17 Millionen Euro, erlöste die Textilfabrik Bruno Barthel im vergangenen Jahr nur noch zwölf Millionen Euro – der Grund lag in der großen Abhängigkeit vom osteuropäischen, insbesondere dem russischen Markt. „Das Unternehmen hat damals viel Umsatz im Ausland gehabt, vor allem in Russland, denn da braucht man halt auch eine richtig warme Mütze“, sagt Thomas Merk. Doch die wachsende inländische Konkurrenz in Russland, die Beschränkungen und Sanktionen und auch der massive Wertverfall der russischen Währung haben dem Unternehmen, das fast ausschließlich in Deutschland produziert, schwer zugesetzt. Als Konsequenz des wirtschaftlichen Engpasses musste Merk in den vergangenen vier Jahren 26 Mitarbeiter kündigen und das Unternehmen neu aufstellen. „Die Textilbranche insgesamt ist angeschlagen. So viele Unternehmenspleiten in der Textilbranche wie in den vergangenen zwei Jahren gab es – glaube ich – noch nie.“Esprit, Gerry Weber, Stefanel und Tom Tailer sind nur einige der bekannten Marken, die in den vergangenen Jahren Insolvenz angemeldet haben.
Zwei Jahre nach seinem Einstieg als Geschäftsführer übernahm Thomas Merk den österreichischen Hutund Mützenhersteller Capo mit Sitz in Feldkirch in Vorarlberg. „Mit Maximo und Capo fahren wir nun eine ZweiMarken-Strategie und weiten unser Sortiment dadurch auf das Erwachsenensortiment aus“, erläutert Merk. Nun produziert die Textilfabrik mit mehr als 90 Mitarbeitern in Chemnitz und Partnern in Europa jährlich rund zwei Millionen Mützen und andere Strickwaren. Zudem fertigt das Unternehmen für Großkunden in Asien. 20 Prozent der gesamten Produktion gehen in den Export weltweit. Beim eigenen Vertrieb legt das Unternehmen seinen Schwerpunkt auf digitale Verkaufskanäle. Seit Thomas Merk die Führung übernommen hat, gehören neben dem Versandhändler Zalando auch Online-Verkaufsplattformen wie Tausendkind, Mytoys und seit Neuestem auch Aboutyou zu den Digitalkunden.
Der Aufbau digitaler Vertriebswege ist für Thomas Merk ein mühseliges Geschäft, ähnlich mühselig wie die Verhandlungen, die Max Merk vor 30 Jahren führte, um die Textilfabrik von der Treuhand wieder überschrieben zu bekommen. Das Ziel, das der Vater verfolgt hat und der Sohn verfolgt, ist dagegen genau das gleiche: Das Unternehmen weiterzuführen, das Bruno Barthel 1897 in Rabenstein bei Chemnitz gegründet hat.